
An seinem
zehnten Geburtstag muss Robert erkennen, dass sich sein Leben gänzlich
verändern wird. Er muss sich eine neue Heimat suchen, denn man hat ihn aus dem
Königreich gewiesen, dass eigentlich ihm gehört. Alles, was ihm bleibt, ist
eine Reisetasche und seine geliebte Flöte. Er landet auf dem Schiff der Hexe
Bösina, die seltsamerweise seinen Namen kennt und offenbar mit seiner geliebten
Zofe etwas gemeinsam hat. Nur was? Er
begegnet dem dreiköpfigen Seeungeheuer Justus und den Märchenerzähler Arek, die
sich beide als Diebe herausstellen, ohne wirklich böse zu sein. Fehmi aber, ein
winziges Regentröpfchen in Gummistiefeln, mit einer lustigen Schleife im Haar,
wird seine Vertraute. Bald sind sie zu einer festen Gemeinschaft geworden und
bestehen miteinander viele Abenteuer. Es gelingt ihnen, die wirklich Bösen zu
bestrafen und das Schloss des kleinen Prinzen zu erobern.
Die
liebevollen Illustrationen von Claudia Quiske machen das Buch zu einem
Lesevergnügen nicht nur für Kinder.
Sieben goldene
Tränen
5. Kinderbuch
Kapitel 1
Prinz Robert
wird verbannt
Als Prinz Robert an seinem zehnten Geburtstag die
Augen öffnete, ahnte er, dass sich sein Leben ab heute verändern würde. Ihm
waren die traurigen Augen seiner Lieblingszofe Frederike und das Getuschel der
anderen Angestellten in den letzten Tagen nicht entgangen.
Da öffnete sich auch schon die Tür und die Zofe
erschien, um ihm beim Anziehen zu helfen. Ihr Gesicht war ernst und in ihren
Augen standen Tränen.
„Guten Morgen, mein Liebling“, flüsterte sie ihm
leise ins Ohr und strich ihm über die Wangen. „Herzlichen Glückwunsch,
mein Kleiner! Ich soll dich gleich zum neuen
Herrscher, deinem Onkel Reinald, in den Thronsaal bringen.“
Nun kullerten der Zofe doch Tränen übers Gesicht,
die sie allerdings vor Robert zu verbergen suchte. Es gelang ihr nicht.
„Warum weinst du, Frederike?“, wollte er wissen.
„Oh, es geschieht nur aus Sorge um dein
Wohlergehen.”
Der kleine Prinz tröstete sie: „Ich weiß, mein
Onkel ist streng, aber warum sollte er mir Böses wollen! Sicher möchte er nur
zum Geburtstag gratulieren!“
Die Zofe holte tief Luft, schwieg und kleidete
Robert an. Dann nahm sie ihn bei der Hand. Sie waren schon fast an der Tür, da
rannte der Prinz zurück, griff nach seiner Mütze, die auf einem Stuhl neben dem
Bett lag, und stülpte sie sich über den Kopf. Er war nämlich nicht wie andere
Kinder, sondern hatte mit grünen Haaren das Licht der Welt erblickt. Es gab
nicht viele, die davon wussten – nur seine verstorbenen Eltern, Onkel Reinald und
Frederike. Sie schnitt ihm eigenhändig die Haare und sorgte dafür, dass kein
grünes Härchen unter der Mütze hervorlugte.
Der kleine Prinz war ein einsames Kind. Seiner
grünen Haare wegen durfte er nicht mit den Kindern der Höflinge spielen, nie
jemand zu sich einladen. Sein einziger Zeitvertreib war eine Blockflöte, die
ihm die Eltern vor ihrem so plötzlichen Tod geschenkt hatten. Wenn er im
Schlossgarten darauf spielte, stellten selbst die Vögel das Zwitschern ein und
die Bienen vergaßen das Summen, so lieblich klangen seine Melodien.
Mit klopfenden Herzen betraten Frederike und Robert
den Thronsaal.
König Reinalds Rede war kurz und knapp. „Deine
Eltern haben vor ihrem Tod bestimmt, dass ich so lange regiere, bis du alt
genug bist, selbst den Thron zu besteigen. Doch heute ist erst dein zehnter
Geburtstag. Deshalb wirst du die nächsten Jahre in einem fremden Land
verbringen und erst zurückkehren, wenn ich es für richtig halte. Deine Zofe hat
auf meinen Befehl hin alle Vorbereitungen zur
Abreise getroffen. Draußen wartet die Kutsche, die dich in die Fremde bringen
wird!“
Der kleine Prinz hätte gerne aufbegehrt, doch er
wusste, es war zwecklos. Onkel Reinald war ein hartherziger Mensch. Als seine
Eltern im letzten Jahr verunglückten, durfte er sie kein letztes Mal sehen und
niemals deren Grab besuchen. Er wusste nun, warum man im Palast getuschelt und
warum Frederike geweint hatte. Der Plan des neuen Herrschers, ihn
wegzuschicken, war dem Hofstaat bereits zu Ohren gekommen. Aber wie hart der
Onkel auch sein mochte, einen Geburtstagswunsch würde er ihm doch nicht
verwehren!
Und so sagte Robert: „Bitte erlaube mir, an das
Grab meiner Eltern zu treten, um mich zu verabschieden.“
Frederike blickte den Prinzen entsetzt an, als habe
er etwas Furchtbares ausgesprochen.
König Reinald wurde blass. Sein Gesicht verzerrte
sich.
„Das kann ich dir nicht gestatten“, antwortete er
und zur Zofe gewandt befahl er: „Bring ihn weg!“
Der kleine Prinz wollte nicht weinen, er wollte
tapfer sein, doch plötzlich rannen Tränen über seine Wangen. Sieben an der
Zahl. Sie fielen als goldene Perlen zu Boden. Von des Königs Blicken, denen der
Zofe und Roberts verfolgt, rollten sie durch den Thronsaal und schlüpften unter
der Saaltür hindurch. Deutlich hörte man das Klicken der Perlen, als sie auf
der breiten Treppe von einer Stufe zur nächsten hüpften. Danach herrschte
Stille.
König Reinald saß wie versteinert auf seinem Thron.
Das Klicken der goldenen Tränen hallte in seinen Ohren wieder. Die Zofe und den
Neffen schien er vergessen zu haben. Frederike ergriff die Hand ihres
Schützlings und eilte mit ihm nach draußen.
„Frederike, was war das? Was ist mit meinen Tränen
geschehen?“, fragte Robert verwundert. „Wohin sind sie gerollt?“
Was sollte die Zofe dem Prinzen antworten? Das Herz
war ihr schwer genug wegen des Abschieds und gleichzeitig hätte sie jubeln
können. Die goldenen Tränen, die Robert geweint hatte, waren ein Zeichen ihrer
Schwester Sapralotta. Es bedeutete: Mach dir keine Sorgen um den Prinzen, ich
passe auf ihn auf! Frederike nahm daher Roberts kleine Hand in die ihre,
drückte sie und sagte: „Die goldenen Tränen bedeuten Glück. Alles wird gut,
mein Liebling!“
Kurz darauf saß Robert in der Kutsche. Der Kutscher
ließ die Peitsche knallen und los ging die Fahrt ins Ungewisse. Solange es
möglich war, winkte Robert der weinenden Frederike zu, die immer kleiner und
kleiner wurde …
Robert war noch ein Kind, doch schon klug genug, um
zu erkennen, was sein Onkel mit ihm vorhatte: Ab jetzt war er nicht mehr Prinz
Robert, der einmal den Thron besteigen sollte, sondern nur noch Robert, der
Junge mit den grünen Haaren, ohne Anrecht auf Krone und Reich.
Die lange Fahrt ging vorbei an Wiesen, Wäldern und
Seen. Irgendwann wurde der kleine Prinz schläfrig, seine Augen wurden immer
kleiner und dann war er eingeschlafen. Auch der Kutscher vorn auf dem Bock
wurde schläfrig. Zuletzt fielen ihm ebenfalls die Augen zu und sein Kopf sank
auf die Brust. Die Pferde trotteten im gleichen Tempo weiter, als sei ihnen der
Weg bekannt.
Sobald die Kutsche über eine besonders holprige
Straße rollte, wurde Robert wach und blickte nach draußen. Auf dieser Seite
dehnte sich ein großes Meer. Es lockte ihn mit seinen weiß-schaumigen
Wellenkronen. Einem inneren Drang folgend, öffnete er die Tür, warf seine
Reisetasche nach draußen und sprang hinterher. Die Kutsche holperte weiter und
bald war sie seinen Augen entschwunden.
Der Weg über den Strand bis zum Wasser war nur
kurz. Robert warf die Tasche in den Sand, zog Schuhe und Strümpfe aus, bohrte
die Zehen in den feuchten Untergrund und ließ sie sich von den anrollenden
Wellen wieder sauber spülen. Ach, war das herrlich! Er vergaß alle seine
Sorgen. Als er sich genug vergnügt hatte, nahm er die Flöte aus der Tasche und
spielte. Aber diesmal gerieten ihm die Melodien so traurig, dass es einen Stein
hätte erweichen können …
Marianne Schaefer wurde am
12.01.1938 in Landsberg/Warthe
geboren. Nach der
Vertreibung aus der Heimat verbrachte sie ihre Kindheit
in Mittelfranken.
Sie arbeitete als Glasbläserin,
Keramikmalerin, Verwaltungsangestellte,
und bis zum Ruhestand in einem
Heim für geistig und körperlich
behinderte Menschen. Seit 25
Jahren wohnt sie in der Nähe von
Lahr/Schwarzwald. Sie ist
verheiratet, hat drei Kinder, neun Enkelkinder
und sieben Urenkel.
Seit Jahren schreibt sie
Geschichten für Erwachsene und Märchen für
Kinder, die in verschiedenen
Anthologien veröffentlicht wurden.
Ihre
bisher veröffentlichten Kinderbücher haben teilweise mehrere
Auflagen.
„Sami, der kleine Elefant“, Sperling - Verlag.
„Annegret
und der Zaubersee“, Sperling - Verlag.
„Schneeflocken
außer Rand und Band“, Sarturia - Verlag.
„Der
zerbrochene Spiegel“, im Sarturia - Verlag.
„Sieben
goldene Tränen, Karina – Verlag – Wien.
„Erzählungen
vom Winterkind“, Karina – Verlag – Wien.
„Lilly und der
Potzemockel“, Karina –Verlag – Wien.