Neo ist fassungslos. Sein Lieblingsmensch Jan verbringt
die Herbstferien auf einem Reiterhof, wo er Westernreiten lernt. Ohne Neo!
Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Huhn: Ein Reithuhn
für den Karatehamster. Die superschlaue rechnende Henne Henriette vom Gnadenhof
Flinke Pfoten eignet sich dafür ganz wunderbar. Allerdings ist das
schöne Tier in großer Gefahr, da ihre Besitzerin Laura erpresst wird. Schaffen
es Kira und die flauschigen Helden Neo, Lee und Chan, diesen Fall ohne Jans
Hilfe zu lösen?
Leseprobe
Kapitel 1
Was für ein
grässlicher Nachmittag. Unsere Besitzerin Kira saß an ihrem Schreibtisch,
machte Hausaufgaben und litt dabei offensichtlich Höllenqualen, denn sie
jammerte fast unentwegt.
»Grausame Grammatikregeln!«, keuchte sie. »Wieso reicht es nicht, eine
Sprache zu sprechen? Muss man sie
auch noch zerpflücken?« Und später: »Bäh, ich hasse diese strunzblöden
binomischen Formeln.«
Auch ich litt entsetzlich, und dazu brauchte ich weder Grammatik noch
strunzblöde Formeln. Ich hockte auf der oberen Etage des Hamsteraquariums und
war nur ein Schatten meiner selbst.
In unserem Hamsteraquarium ist übrigens kein Wasser drin, wir sind ja
keine Blubberfische. In unserem Aquarium findet man Einstreu, zwei
Schlafhäuser, ein Laufrad, eine Wippe, eine Rutsche, eine digitale Briefwaage,
einen Wackelbuddha, ein mit Gel gefülltes Polster, drei Wellensittichspiegel,
ein Kletternetz und drei Hamster. Zwei der Hamster waren an diesem Nachmittag
quietschfidel, einer war völlig mit den Nerven am Ende. Und dieser Hamster war
ich.
Gelangweilt starrte ich vor mich hin. Es war erst wenige Tage her, da
hatte ich Kiras bestem Freund Jan geholfen, eine Tierquälerin zu überführen.
Dazu musste ich als Ablenkungsmanöver von einem Schreibtisch in ein
Wasserbecken springen, während Jan den entscheidenden Beweis sicherstellte.
Diese Aktion hatte mich große Überwindung gekostet, denn Wasser ist uns
Hamstern ein Gräuel. Wir verabscheuen es, nass zu werden. Ich verabscheue es
sogar ganz besonders. Wie soll man tapfer, tollkühn und verwegen aussehen, wenn
das Fell trieft und man vor Kälte zittert?
Da ich ein Leben voller Gefahren führe, werde ich leider sehr oft
unfreiwillig nass. Doch der Sprung ins Wasserbecken war kein Unfall gewesen,
ich hatte es mit Absicht getan. Mit Absicht! Todesmutig!!! Denn es war der
wichtigste unserer bisherigen Fälle gewesen. Kira und Jan hatten sich bei den
Nachforschungen zerstritten. Erst nachdem der Fall gelöst war, gelang es mir,
sie wieder zu versöhnen.
Es war das Opfer wert, sagte ich mir. Und doch …
Ich konnte einfach nicht
aufhören, den schrecklichen Moment im Geist wieder und wieder zu erleben. Wenn
ich mit etwas anderem beschäftigt war – wie Laufradlaufen, Klettern oder Wippen
–, fühlte ich mich wie immer. Drahtig, sportlich, unbesiegbar. Aber sobald ich
eine Pause einlegte, passierte es. Die Erinnerung holte mich ein, ich erstarrte
und bekam kaum noch Luft. So wie eben, als ich auf die obere Etage getrippelt
war, um mich in Ruhe zu putzen.
»Mit den Hinterpfoten voraus«,
murmelte ich. »Zwei endlose Sekunden freier Fall. Und dann … platsch. Eingetaucht bis auf den Grund.«
Ein Beben ging durch meinen Körper, von den Schnurrhaaren bis zum
Stummelschwänzchen. »Mit den Hinterpfoten voraus!«, wiederholte ich lauter.
»He, Ruhe da oben!«, rief Lee
(das spricht man »Lieh«), der vor dem Schlafhaus, das er sich mit Chan
(»Tschann«) teilt, auf seinem gemütlichen Gelpolster hockte. »Ich versuche zu
meditieren.«
»Und ich versuche, wieder der
alte Neo zu sein«, sagte ich niedergeschlagen. »Tut mir leid, dass ich dich
gestört habe.«
Lee sah zu mir hoch. »Was hast du gesagt?«
»Dass es mir leidtut«,
wiederholte ich kläglich.
»O nein!«, stöhnte Lee. »Das
ist ja furchtbar. Chan, komm schnell her. Wir müssen Neo helfen. Er ist völlig
verstört. Er hat sich sogar entschuldigt. Das gab es noch nie.«
»Macht euch wegen mir keine
Gedanken«, bat ich. »Lebt euer Leben und genießt jede Sekunde. Es kann so
schnell vorbei sein. Mit Anlauf und Karacho und mit den Hinterpfoten voraus – platsch! – ins erbarmungslose Nass.«
»Oiweh.« Lee schüttelte den
Kopf. »Neo, ich weiß, was los ist. Du bist traumatisiert.«
Chan stellte sich neben Lee
und drehte einen Joghurtdrops zwischen den Vorderpfoten. »Was bedeutet
tomatisiert?«
»Es heißt traumatisiert«, korrigierte Lee. »Und es bedeutet, dass man einen
Schock erlitten hat und eine Therapie braucht, weil man sonst sämtliche
Lebensfreude verliert.«
»Schon passiert«, sagte ich
und ließ die Schnurrhaare hängen. »Lebensfreude gleich null. Platsch!«
Lee kam die Rampe hoch und
legte mir eine Pfote auf den Rücken. Normalerweise hätte ich ihm jetzt gesagt,
dass er mich gefälligst nicht anfassen soll, aber diesmal erduldete ich es
fügsam.
»Ich kenne die ideale Therapie«,
sagte er. »Ein ordentlicher Kreischanfall wird dir guttun. Lass alles raus. Den
ganzen Frust, die Angst, die Verzweiflung. Mir hat das immer geholfen.«
»Kreisch«, hauchte ich
unmotiviert. »Kreischi-kreisch.«
»Viel zu leise. Soll ich es
dir vormachen?«, bot Lee an.
Chan stopfte sich den Drops in
die Backentasche und schwankte die Rampe hoch. Er ist so rund, dass er
wunderbar hochrollen könnte, wenn die Schwerkraft ihm nicht einen Strich durch
die Rechnung machen würde. Aber runterrollen klappt immer prima.
»Warte, Lee«, sagte er. »Ich
weiß was Besseres.« Er schob den Drops aus der Backe und hielt ihn mir hin.
»Nimm den ins Maul und lass ihn ganz langsam und genüsslich auf der Zunge
zergehen. Mir hat das immer geholfen.«
Ich sah den Drops an, dann Chan,
dann Lee, dann wieder den Drops. »Lee, du warst noch nie so fürsorglich. Und
Chan, du teilst sonst niemals freiwillig dein Futter. Seid ihr etwa auch
atomisiert?«, fragte ich.
»Es heißt traumatisiert«, verbesserte Lee mit leicht gereiztem Unterton. »Nun
lutsch schon den ollen Drops.«
Ich gehorchte. Er schmeckte
süß und mehlig.
»Konzentrier dich auf den
wundervollen Geschmack und das milde Joghurtaroma«, sagte Chan. »Das wirkt
wahre Wunder.«
»Doppelt hilft besser«, meinte
Lee. »Du könntest dabei gleichzeitig einen Kreischanfall kriegen.«
»Kreisch«, nuschelte ich.
»Kreischi-krei…. grchkrchgrch.« Ich hatte mich verschluckt. Gleich würde mir
schwarz vor Augen werden.
Lee schlug mir auf den Rücken,
Chan griff mir ins Maul und angelte vergeblich nach dem Drops, während ich
keuchte und röchelte und strampelte.
Was
für ein unwürdiges Ende für einen Karatehamster. Aber man kann es sich nicht
aussuchen, nicht wahr?
Über die Autorin:
Tina Zang hat sich einen
Namen gemacht mit ihren frechen und ungewöhnlichen Kinder- und Jugendbüchern.
Sie schreibt seit zwanzig Jahren, weil es nichts gibt, was sie glücklicher
macht ... außer Singen und Katzen streicheln.
Homepage:
http://www.tinazang.net
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