Die siebenjährige Mia träumt sich mit ihrem Teddy Tapsi ins Märchenland. Damit Tapsi dort bleiben kann, muss Mia eine Aufgabe erfüllen. Sie freut sich darauf und hat auch ein wenig Angst. Doch dann erfährt sie: das Märchenland ist in Gefahr. Mia will bleiben und helfen. Aber sie hat sich zu viel vorgenommen und droht zu scheitern. Wird sie Hilfe erhalten? Oder wird sie endgültig scheitern?
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Tapsi will ins Märchenland
Mia
sitzt auf dem Fensterbrett und schaut auf die belebte Straße. Autos fahren hin
und her, Menschen hasten vorbei und laufen zur Bushaltestelle. Kinder mit
Schultaschen bevölkern das Wartehäuschen. Über allem liegt der Lärm der
Großstadt: Hupen, das Geräusch quietschender Bremsen, Rufen und Lachen.
Hinter
den Fensterscheiben im zweiten Stock hört man alles nur gedämpft.
Neben
Mia sitzt Tapsi, ihr geliebter Teddy. Mit ihm redet sie über alles, was sie
bedrückt oder freut. Er begleitet sie überall hin und am Abend erzählt Mia ihm
die Märchen von Oma Elli.
Jemand
zwickt Mia ins Bein. Erschrocken sieht sie sich um, doch außer ihrem kleinen
Bären ist niemand in der Nähe.
„Warst
du das?“, fragt sie ungläubig.
„Ja,
du träumst. Ich will nach draußen! Spielen!“
Mia
nimmt ihren Bären auf den Arm, hüpft die Treppe hinunter und läuft in den
Garten. Zwischen bunten Blumenbeeten und Rasen hängt eine Schaukel an einem
alten Kastanienbaum. Fröhlich fängt sie an zu schaukeln, höher und immer höher.
„Halt!“,
ruft ihr Teddy. „Nicht so hoch. Ich habe Angst.”
Mit
beiden Pfoten hält er sich die Augen zu.
„Du
Angsthase!“ Mia lacht, aber sie lässt die Schaukel langsam auspendeln.
„Ich
bin ein Bär und kein Vogel“, erklärt Tapsi trotzig.
Flink
springt Mia von der Schaukel und läuft zur Gartenbank, die in einer Ecke des
Hinterhofs unter einer efeubewachsenen Pergola steht.
„Bald
komme ich in die Schule“, erzählt sie ihrem Teddy. „Dann lerne ich lesen und
schreiben und kann dir alle Märchen selbst vorlesen.“
Erstaunt
bemerkt sie, dass ihr kleiner Begleiter traurig den Kopf hängen lässt.
„Freust
du dich nicht darüber?“, fragt sie verwundert.
„Du
wirst mich vergessen“, stellt Tapsi traurig fest.
„Werde
ich nicht!“, widerspricht Mia, noch bevor ihr Freund fortfahren kann.
„Doch!
Du wirst in der Schule neue Freunde finden und immer weniger Zeit haben. Ich
lande irgendwo in der Ecke, auf einem Stuhl oder Regal. Wenn ich Glück habe,
werde ich verschenkt. Oder…“
„Oder?“,
fragt Mia neugierig.
“Oder
ich lande im Müll. Und da will ich bestimmt nicht hin“, fährt der kleine Bär
mit seinen Überlegungen fort.
Mia
nimmt ihn fest in den Arm und versucht ihn zu trösten. „Das wird nicht
passieren. Ich verspreche dir, dass ich immer Zeit für dich haben werde.“
„Versprich
es lieber nicht. Du wirst älter, dann glaubst du nicht mehr an Märchen und
kannst mich auch nicht mehr verstehen. Erwachsene reden nicht mit Puppen und
Teddys.” Tapsi seufzt. “Und dann muss
ich hierbleiben“, setzt er nach einer kurzen Pause hinzu.
„Was
heißt das? Du musst hierbleiben? Wo willst du denn hingehen?“, fragt Mia
erstaunt.
„Ins
Bären- und Märchenland“, erklärt der Teddy mit einem sehnsüchtigen Blick.
„Und
wieso kannst du dort nicht hin?“, will Mia wissen. Jetzt ist sie neugierig
geworden.
„Ein
Kind muss mich begleiten und mir helfen. Sonst kann ich nicht im Märchenland
bleiben.“
„Ich
begleite dich.“ Vor lauter Aufregung bekommt Mia rote Bäckchen.
„So
einfach ist das nicht!“ Der kleine Bär überlegt. „Du must eine Aufgabe
erfüllen. Schaffst du es nicht, musst du dort bleiben, aber ich werde zurückgeschickt.
Das ist viel zu gefährlich!“
„Ich
will aber.“ Mia stampft mit dem Fuß auf den Boden. „Ich will! Ich will! Ich
will!“
„Was
willst du?“, fragt Mias Mutter, die gerade vom Einkaufen zurückkommt.
„In
die Schule gehen“, sagt Mia schnell.
Ihre
Mutter lacht. „Da must du dich noch ein bisschen gedulden. Ich bin ja mal
gespannt, ob du nach der ersten Schulwoche noch genauso begeistert bist. In
einer halben Stunde gibt es Essen!“, ruft sie Mia noch zu, bevor sie den Garten
verläßt und ins Haus geht.
„Du
sollst doch nicht schwindeln.“
Tapsi
sieht Mia vorwurfsvoll an.
„Das
war nicht geschwindelt. Ich will ja in die Schule gehen“, erklärt Mia.
„Allerdings habe ich das jetzt nicht gemeint“, fährt sie kleinlaut fort. „Aber
meine Oma sagt immer, wenn man etwas ganz doll will, dann kann man das auch!“
Mia
nimmt ihren Teddy auf den Arm, tanzt mit ihm durch den Hof und singt dabei:
“Juppheidi
und Juppheida, Märchenland wir sind gleich da!“
Tapsi
freut sich. Aber er ist auch ängstlich, weil er keine Ahnung hat, was Mia im
Märchenland tun soll.
„Wie
kommen wir jetzt dorthin?“, unterbricht das Mädchen ungeduldig seine Gedanken.
„Im
Traum!“, erfährt sie sofort. „Wir müssen beide dasselbe träumen, dann schaffen
wir es.“
„Woher
soll ich denn wissen, was du gerade träumst?“
Mia
ist enttäuscht. Das hat sie sich einfacher vorgestellt.
Nach
dem Abendessen wird Mia gebadet. Mama Steffi rubbelt noch ihren kurzen Blondschopf
trocken. Dann bringt sie ihre Tochter ins Bett, deckt sie zu und gibt ihr einen
Gutenachtkuss. Meistens schläft Mia danach sehr schnell ein.
Doch
heute ist alles anders. Sie liegt noch lange wach und überlegt.
Schließlich
drückt sie ihren Teddy fest an sich und flüstert ihm ins Ohr: „Wir könnten von
einem Picknick auf einer Wiese am Waldrand träumen. Was meinst du?“
„Probieren
können wir es ja“, murmelt Tapsi schlaftrunken, während er sich in die Arme des
kleinen Mädchens schmiegt.
* * *
Auf
einer Picknickdecke, umgeben von hohem Gras, erwacht Mia. Träumt sie? Hat sie
verschlafen?
Die
Sonne leuchtet am wolkenlosen Himmel und wärmt Mia mit ihren Strahlen. Ein Korb
mit Würstchen, Kartoffelsalat und Apfelsaft steht für das Picknick bereit. Suchend
schaut sich Mia um. Sie kann Tapsi nirgends entdecken, auch nicht, als sie
aufsteht und über das hohe Gras hinweg den Hügel hinabschaut.
An
ihrer linken Seite, ein Stück hinter ihr, erstreckt sich ein dunkler Wald mit
riesigen Bäumen. Wenige Meter neben ihr geht es steil bergab in eine Schlucht,
aus der das Rauschen von Wasser zu hören ist.
Am
Waldrand ruht eine riesige Bärin. Als diese Mia entdeckt, erhebt sie sich und
trottet gemächlich auf das Mädchen zu. Mia fürchtet sich und will schnell
wegrennen, doch ihre Beine versagen ihr den Dienst. Und wohin soll sie auch
flüchten?
„Hab
keine Angst“, ruft ihr die Bärin mit freundlicher Stimme zu.
Zitternd
bleibt Mia stehen, bis die Bärin vor ihr, nein, über ihr auftaucht.
Ein
leises, beruhigendes Brummen erklingt, als sie den Kopf senkt und Mia in die
Augen schaut.
„Du
brauchst keine Angst zu haben. Wirklich nicht.“ Die Bärin versucht Mia zu
beruhigen. „Mädchen, die kleine Bären ins Märchenland begleiten, darf niemand
etwas tun: kein Bär, kein Wolf, kein Zauberer, keine Hexe, niemand!“
„Ich
bin im Märchenland?“ Mia klappert noch immer mit den Zähnen. „Aber wo ist mein
Teddy? Ich kann ihn nirgends sehen?“
„Aber
er muss da sein, sonst wärst du auch nicht hier!“ Jetzt sieht sich auch die Bärin
um. „Komm raus Kleiner, hier tut dir niemand was.“
Langsam
bewegen sich die Grashalme. Dann teilen sie sich und Tapsi krabbelt auf die
Decke. Vorsichtig blickt er zu der Bärin hoch.
„Bist
du jetzt meine Mama?“, fragt er schüchtern.
Die
Bärin nimmt ihn behutsam hoch und betrachtet ihn genau. Dann schmunzelt sie,
dreht sich auf den Rücken und legt den Teddy auf ihren Bauch.
„Was
muss ich jetzt tun?“, fragt Mia in die Stille.
„Ohhh!
Das hätte ich vor lauter Freude beinahe vergessen!“
Die
Bärin setzt sich wieder und Tapsi nimmt zwischen ihren großen Tatzen Platz.
„Kind,
du sollst für deinen kleinen Freund zwei Geschichten erfinden, die er später
seinen Kindern erzählen kann. Märchenbären haben immer zwei Kinder, deshalb
auch zwei Märchen. Es müssen aber neue Geschichten sein, selbst ausgedachte!“
Mia
strahlt: „Das kann ich. Ich hab‘auch schon eine Idee!“
- - -
Es
ist 7 Uhr morgens, als Mias Mutter ins Zimmer kommt, um ihre Tochter zu wecken.
Mia umklammert im Schlaf ihren Teddy. Unruhig dreht sie sich hin und her.
Fürsorglich
beugt sich Mama Steffi über sie.
„Mia,
aufwachen!“
Das
Mädchen reagiert nicht. Vorsichtig legt Mama Steffi ihre Hand auf Mias Stirn.
Die ist ganz heiß. Besorgt ruft sie den Hausarzt an und verständigt auch Mias
Vater, der schon zur Arbeit gefahren ist.
Nach
einer gründlichen Untersuchung schüttelt der Arzt den Kopf. Er stellt Mias
Mutter noch einige Fragen, die sie jedoch alle verneint.
„Ich
schreibe ihnen ein Medikament gegen das Fieber auf, und geben Sie ihr viel zu
trinken“, erklärt er der verstörten Mutter. „Sollte es nicht besser werden,
rufen Sie mich wieder an.“
An
der Wohnungstür dreht er sich noch einmal um. „Sie können mich jederzeit
anrufen, auch nachts!“
* * *
Mia
will anfangen zu erzählen, aber die Bärin unterbricht sie.
„Du
musst einen Augenblick warten … und nicht erschrecken!“, fügt sie
augenzwinkernd hinzu.
Dann
reißt sie ihr riesiges Maul auf und ein markerschütterndes Gebrüll dröhnt durch
das Tal. Mia und Tapsi suchen erschrocken unter der Decke Schutz.
„Kommt
wieder raus!“ Die Bärin hebt schmunzelnd die Decke hoch. „Gleich sind alle da.“
Erstaunt
betrachtet sich Mia die vielen Gestalten, die auf sie zukommen. Einige davon kennt
sie: Rotkäppchen, Hans im Glück, Rapunzel und Schneewittchen. Dann sind da noch
Gnome, Trolle, Monster, Elfen, Hexen, Zauberer und was sonst noch im
Märchenland lebt. Sie laufen, hoppeln, springen und fliegen zur Wiese, die
immer voller wird. Es gibt ein Drängeln und Schubsen, sodass Mia Angst kriegt.
Jeder will ganz vorne sitzen.
Die
Bärin erkennt die Gefahr, da einige der Schlucht beängstigend nahe kommen und
brüllt so laut sie kann. Sofort kehrt Ruhe ein und jeder nimmt Platz, wo er
gerade steht. Anschließend bittet sie Mia auf ihren Rücken zu steigen, damit
jeder das Mädchen sehen und hören kann.
Mia
folgt ihrer Bitte, macht es sich bequem und beginnt, mit beschwörender Stimme
zu erzählen:
Das Mädchen und der Zauberer
Als Sahiri aufwachte, war es dunkel, so dunkel, dass sie
nicht einmal ihre Nasenspitze erkennen konnte. Es roch muffig und der Boden war
kalt und hart.
„Bist du wach?“,
fragte eine zittrige Stimme in ihrer Nähe. Es war die Stimme eines Mannes.
„Ja“, erwiderte sie leise und voller Furcht. „Wo bin ich?“
„Du bist im Gefängnis.
Was hast du getan?“
„Ich weiß es nicht. Meine
Eltern sind beide tot. Ich bin drei Tage und Nächte gegangen, um in die Stadt
zu kommen und Arbeit zu suchen. Vor dem Stadttor bin ich unter einem Baum
eingeschlafen“, erzählte sie.
„Darum also! Herumlungern ist bei Strafe verboten“,
entgegnete ihr der Unbekannte.
Als ein paar Mondstrahlen durch ein winziges Fenster in der
Decke fielen, konnte sie den alten Mann in der anderen Zelle sehen, gerade so
lange, bis eine Wolke den Mond wieder verdeckte.
„Schlaf ein wenig“, flüsterte der Greis. „Morgen wirst du vor
den König gebracht. Vielleicht hast du Glück und er lässt dich gehen.“
Sahiri hörte es nicht mehr. Sie war bereits vor Erschöpfung
eingeschlafen.
„Steh auf!“, schnauzte sie plötzlich jemand an. „Steh endlich
auf! Der König wird dir den Kopf abreißen, wenn du nicht sofort mitkommst.“
Gehorsam stand Sahiri auf und folgte eingeschüchtert dem
Wärter, der sie grob vor sich hertrieb.
„Schneller!“, befahl er und gab ihr einen kräftigen Stoß.
Sie stolperte und fiel hin, direkt vor die Füße des Königs.
Dieser sah sie lange an und sprach: „Du kannst gehen! Heute
ist ein Trauertag für mich. Mein Sohn, Prinz Mahmud, wurde entführt und niemand
weiß, wo er ist. Ein böser Zauberer hat ihn gefangen. In zehn Tagen ist Vollmond, da muss ich den Zauberer zum
König krönen, sonst stirbt der Prinz.“
„Ich werde ihn suchen“, schlug Sahiri vor, ohne lange zu überlegen.
Der König tat ihr leid.
„Das würdest du tun?“ Ungläubig blickte der König sie an.
„Wie willst du es schaffen, wenn selbst meine Soldaten nichts ausrichten
konnten?“
„Das weiß ich selber noch nicht“, antwortete sie ehrlich.
Dann kam ihr eine Idee.
„Darf ich den weisen, alten Mann mitnehmen?“, fragte sie.
„Einen Greis und ein Mädchen wird der Zauberer wohl nicht als Gefahr ansehen.
Vielleicht schaffen wir es zusammen?“
„Bring die beiden in die Küche“, befahl der König dem Wärter.
„Sie sollen sich stärken und genügend Proviant mitnehmen.“
Dann sah er Sahiri nachdenklich an.
„Dir und deinem Begleiter wünsche ich viel Glück. Ihr seid
meine einzige Hoffnung.“
Damit ließ er sie stehen.
Nachdem sie sich in der Küche gestärkt hatten, machten sich Sahiri
und Aldo, so hieß der alte Mann, auf den Weg.
Eine klapprige Eselskarre war das einzige Transportmittel,
das sie finden konnten. Bis zu den Bergen, wo der böse Zauberer wohnte, war es
nicht weit. Doch je näher sie den Bergen kamen, umso weiter schienen sich diese
zu entfernen
„Es ist, als ob wir rückwärts gingen. Obwohl wir die Berge
vor uns sehen, werden sie mit jedem Schritt kleiner.“
Sahiri klang verzweifelt.
„Nur nicht so schnell aufgeben. Du bist nicht nur hübsch,
sondern auch mutig und klug. Du wirst es schaffen“, meldete sich Aldo zu Wort.
Sahiri überlegte lange, während sie weitergingen. Ab und zu
warf sie einen Blick auf die Berge.
„Vielleicht sollten wir uns umdrehen und wirklich rückwärtsgehen“,
dachte sie laut und sprang dabei aus dem Wagen.
Aldo folgte ihr und sie führten den Esel, während sie selbst
rückwärtsgingen. Sie waren einige Stunden gelaufen, als der Esel abrupt stehen
blieb.
Mitten auf der staubigen Straße lag ein Löwe mit einer
großen, stark blutenden Wunde. Er war schon sehr schwach und Sahiri hatte
Mitleid mit ihm. Sie lief zu dem verletzten Tier, verband seine Wunde und gab
ihm Wasser. Der Löwe erholte sich und folgte humpelnd dem Gespann. Ab und zu
trank er das Wasser aus den Kokosnussschalen, die Sahiri ihm hinstellte. Am
vierten Tag verschwand der Löwe.
Sahiri und Aldo liefen immer noch rückwärts, als der Esel zum
zweiten Mal anhielt.
„Was ist denn jetzt schon wieder“, rief das Mädchen ungeduldig und drehte sich
um. Erstaunt und ungläubig starrte sie auf die Felswand, die sich steil und
unbezwingbar vor ihr erhob.
„Wir sollten eine Pause machen, es wird schon bald dunkel”,
schlug Aldo vor.
Sahiri hatte Tränen in den Augen: „Wie sollen wir da bloß
hinaufkommen?“, fragte sie verzweifelt.
„Es gibt einen Weg, aber man muss zum richtigen Zeitpunkt
hier sein, sonst sieht man ihn nicht“, hörte sie Aldos ruhige Stimme.
„Woher weißt du das?“ Sahiri war neugierig geworden.
„Ich war schon einmal hier, aber das ist sehr, sehr lange
her.” Er klang traurig. „Wenn du den Weg findest darfst du niemals vergessen,
was du vorhast, egal wie zauberhaft es auf der anderen Seite ist. Vergiss
nicht, was du dem König versprochen hast, sonst wird der Zauberer gewinnen!“,
fügte er beschwörend hinzu.
Die Nacht war kalt und Sahiri hatte schreckliche Träume, von
Felsspalten, die sie einquetschten; von Schluchten, in die sie hinabstürzte;
von einem Löwen, der sie fressen wollte und von einem giftgrünen Monster, das
beim richtigen Wort mit einem Knall zerplatzte.
Schweißgebadet wachte sie auf und sah einen kleinen,
zierlichen Affen, der eine Banane stahl und in den Büschen verschwand.
Vorsichtig folgte sie ihm und konnte gerade noch sehen, wie er in eine
Felsspalte schlüpfte.
Plötzlich drang ein durchdringendes Kreischen laut und
unheimlich aus der dunklen Spalte. Sahiri zögerte, doch dann folgte sie dem
Äffchen, um ihm in seiner Not zu helfen.
Langsam tastete sie sich an der glatten Felswand entlang. Der
Spalt war groß genug, um aufrecht gehen zu können. Die Wände waren kalt und
rauh. Sahiri hatte Angst. Nach ein paar Windungen konnte sie einen schmalen
Lichtstreifen erkennen und hörte ein Rauschen und Brausen, das mit jedem
Schritt lauter wurde.
Sie trat aus dem dunklen Gang und stand unter einem
Felsvorsprung, über den die Wassermassen mit Getöse in die Tiefe stürzten. Es
war rutschig, und sie folgte vorsichtig dem schmalen Pfad. Geschützt durch eine
dichte Baumkrone, trat sie hinter dem Wasserfall hervor. Staunend blieb sie
stehen. Prächtige Blumen, grüne Bäume und zahlreiche Früchte wuchsen in einem friedlichen
Tal. Der tosende Wasserfall sammelte seine Massen und strömte in einen
silbrigglänzenden See. An dessen Ufer lag ein Dorf mit zahlreichen bunten
Häusern.
Hier würde sie gerne leben.
Langsam kletterte Sahiri den steilen Pfad nach unten, als es im
Dorf laut wurde. Menschen schrieen durcheinander und liefen wild umher. Sahiri
duckte sich, als ein Pfeil nahe an ihrem Kopf vorbeipfiff.
,Vergiss nicht warum du hier bist’, hörte sie Aldos Stimme und
sah sich suchend um. Sie war allein und auf einmal erkannte sie den Grund der
Aufregung. Ein verletzter Löwe lief durch das Dorf und die Meute verfolgte ihn.
Nein, nicht alle. Zwei Wächter mit Speeren standen vor einem
Haus. Sie gingen ein paar Schritte hinter den Verfolgern her.
Das Mädchen nutzte die Gelegenheit und schlüpfte durch den
Eingang, in einen langen Flur mit unendlich vielen Türen. Es waren so viele,
dass sie nur jede siebte Tür öffnete, und sie hatte Glück. Als sie zum dritten
Mal die siebte Tür öffnete, gelangte sie in einen großen Saal. In der Mitte
stand regungslos der junge Prinz.
Schnell rannte sie auf ihn zu und erschrak. Vor ihm tauchte
plötzlich das grüne Monster aus ihrem Traum auf.
„Bleib wo du bist!“, rief ihr der Prinz zu. „Es ist blind, reagiert
aber auf Bewegung. Nur wenn du ruhig stehen bleibst, kann es dich nicht finden.
Sonst frisst es dich!”
„Ich habe das Monster im Traum gesehen“, sprudelte es aus
Sahiri heraus. „Es platzt, wenn man das richtige Wort sagt.“
„Dann sag es, schnell“, stöhnte der Prinz. „Ich kann nicht
mehr lange ruhig stehen.“
„Ich habe es vergessen“, schrie Sahiri verzweifelt. „Was
machen wir jetzt?“
Mit einem Krachen flog die Eingangstür auf und der Löwe war
mit einem Satz im Saal. Das Geschrei hinter ihm verstummte, keiner traute sich
ihm zu folgen. Vor dem Monster mit seinen vielen Armen hatten alle Angst. Nur
der kleine Affe schlüpfte schnell durch die Tür. Affe und Löwe sprangen hin und
her, um das Monster zu verwirren. Prinz Mahmud und Sahiri bewegten sich langsam
zum Ausgang, während das grüne Monster abgelenkt war.
Sie hatten die Tür fast erreicht, als der Zauberer eintrat.
Er kam direkt durch die Wand und lachte böse.
„Das kann ich nicht zulassen. Es ist noch nicht Vollmond.“
Dann wandte er sich an den Prinzen: „Du hast meine Gastfreundschaft nicht verdient.
Deshalb werdet ihr alle sterben“, zischte er ihm ins Ohr.
Im gleichen Augenblick fing das Haus an, zu stöhnen und zu
jammern. Die Wände vergossen Tränen und krümmten sich, als ob sie Schmerzen
hätten.
Schadenfroh rieb sich der böse Zauberer die Hände.
„Ich werde dem Monster
die Augen wiedergeben. Morgen bin ich König und erhalte unbegrenzte Macht. Ihr
seid bis dahin alle tot.“
„Noch ist deine Macht nicht unbegrenzt“, tönte es vom Dach
des Hauses.
„Aldo“, flüsterte Sahiri erschrocken.
Der Zauberer wurde wütend. „Ich werde dich auch dieses Mal
von hier vertreiben! Du solltest dich in Acht nehmen“, brüllte er und
verschwand.
„Achtung, das Monster hat seine Augen wieder!“, rief in
diesem Moment der Prinz.
Löwe, Affe, Prinz und Mädchen versuchten, den Armen des
Monsters zu entrinnen. Schlagartig hatte einer der langen Arme den Löwen
erwischt und umwickelt. Wie eine Krake zog das Monster ihn langsam zu seinem
riesigen Maul.
Als wären sie festgewachsen blieben alle stehen und schauten
dem grausigen Schauspiel zu. Flink warf das Monster seine Arme nach ihnen aus.
Der Prinz, das Äffchen und das Mädchen waren eingefangen und eingewickelt. Sich
zu befreien war unmöglich.
„Dinosaurier, Kakerlake, Kuckuck,Huidibuh!“, schrie Sahiri
verzweifelt. „Warum fällt mir das blöde Wort nicht ein?“
„Mach dir keine Vorwürfe“, versuchte der Prinz, sie zu
trösten. „Danke, dass du…“ Weiter kam er nicht.
Mit einem Donnerschlag zersprang das Monster in Tausende von
grünen Smaragden und Perlen.
„Was war das denn?“, erklang die Stimme des Löwen.
„Danke! Das war das Wort! Wie konnte ich das nur vergessen“,
rief Sahiri erleichtert.
Sie bahnten sich einen Weg zur Tür, um Aldo bei seinem Kampf
mit dem Zauberer zu helfen. Sahiri war als Erste an der Tür und lief schnell
durch den langen Flur zum Ausgang.
Vor dem Haus stand der Zauberer und dirigierte mit seinem
Zauberstab eine Liane, die sich wie eine Schlange um Aldos Körper wand.
„Ich platze nicht!“, rief er dem Mädchen gehässig zu, als
Sahiri atemlos vor ihm stehen blieb. „Bei mir genügt ein einfaches Wort nicht“,
erklärte er und lachte schadenfroh. „Du musst schon einen Grund haben, um dich
zu bedanken, und den hast du nicht!“
„Lieber Zauberer“, entgegnete ihm Sahiri und lächelte ihn an.
„Ich bin ja so froh, dass du uns nicht sofort getötet hast.“ Und nach einer
kurzen Pause fügte sie laut hinzu: “Danke!“
Kaum hatte Sahiri es ausgesprochen, löste sich der Zauberer
in schwarzen Rauch auf.
Der Boden begann zu schwanken, Häuser stürzten ein und bauten
sich von selbst wieder auf.
Mitten im See erhob sich strahlend ein weißes Schloss mit goldenen Dächern.
Löwe und Affe verwandelten sich. Vor Aldo, Sahiri und Prinz
Mahmud standen der König und die Königin des kleinen Landes. Sie bedankten sich
mit einem großen Fest für ihre Rettung. Sahiri und Prinz Mahmud wurden mit
vielen Geschenken in ihre Heimat begleitet. Aldo blieb in seinem kleinen Tal.
Das ganze Land jubelte über die Rettung des Prinzen und der
König hatte nichts gegen eine Hochzeit mit Sahiri einzuwenden.
Und so lebten sie glücklich und zufrieden in ihrem
Märchenland.
Und wenn sie nicht gestorben sind…
* * *
Andächtige
Stille liegt über der Wiese. Dann meldet sich Tapsi zu Wort: „Bitte noch ein
Märchen!“
„Ja!
Noch eins! Noch eins!“, klingt es von allen Seiten.
„Ich
bin müde. Lasst mich ein wenig ausruhen, dann erzähle ich gerne weiter.“ Mia
kuschelt sich erschöpft in das weiche Fell der Bärin und schläft sofort ein.
- - -
Die
Eltern sitzen an Mias Bett. Papa Christian hält ihre Hand und Mama Steffi
wischt ihr mit einem kühlen Tuch über die heiße Stirn. Löffelweise schiebt sie
die Medizin zwischen ihre Lippen. Mia schluckt, das ist die einzige Reaktion.
Ihren kleinen Bären hält sie immer noch krampfhaft fest.
Mittlerweile
ist auch Mias Oma eingetroffen. Sie kocht Tee und hilft dabei, Mias
verschwitzte Sachen zu wechseln.
Der
Arzt ist schon wieder gegangen, doch er will bald zurückkommen. Er ist sehr
besorgt, da er sich nicht erklären kann, was mit Mia geschehen ist.
* * *
Kaum
hat Mia die Augen aufgeschlagen, wird sie von Tapsi mit der Nase angestupst.
Erwartungsvoll
strahlt er sie an: „Gibt es jetzt noch eine Geschichte?“
Mia
sieht sich erstaunt um. Alle haben gewartet und im Hintergrund kann Mia einen
neuen Gast erkennen, ein großes, grünes Ungeheuer. Fragend schaut sie hinüber
zur Bärin.
„Das
ist das Ungeheuer aus deinem Märchen. Hier leben alle Märchen- und
Tiergestalten weiter, so lange jemand von ihnen erzählt.”
„Das
habe ich nicht gewusst.“ Mia ist beeindruckt.
Tapsi
reicht ihr ein Kleeblatt, das er im Gras entdeckt hat.
„Das
zweite Märchen bitte“, drängelt er und seine Augen leuchten wie Sterne in der
Nacht.
Mia macht es sich wieder auf dem Rücken der Bärin bequem
und während sie das Kleeblatt betrachtet, beginnt sie mit der zweiten
Geschichte für ihren Teddy.
Über die Autorin:
Margareta Schenk, geb. 1952, ist verheiratet und hat drei
erwachsene Kinder. Sie lebt in Bayern. Die Vorsitzende des Vereins „Future for children e.V.“, der Kindern und
armen Familien in Sri Lanka hilft, ist eine begeisterte Krimi- und
Märchenleserin. Mit der Zeit entstand daher der Wunsch, selbst ein Buch zu
verfassen. So begann sie 2012 mit einem Schreibstudium. Bereits während des
Studiums vollendete sie ihr erstes Märchenbuch „Mias Traum“. Es folgten „Mias
Abenteuer“ und die Kurzgeschichtensammlung
„Der Riss“. Zwei Märchen und eine Kurzgeschichte wurden bisher in Anthologien
veröffentlicht.
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