Klappentext
Davie ist gar nicht weihnachtlich zumute. Warum war Mum
nach der Scheidung auch nach New York gezogen? Er vermisst seinen kleinen Hund,
den er in Wisconsin zurücklassen musste. Dad hatte jetzt eine neue Frau und
einen neuen kleinen Jungen. Davie denkt nicht daran, Weihnachten mit ihnen zu
verbringen. So wie Mum noch nicht den richtigen Partner gefunden hat, hat auch
Davie hier noch keine Freunde, seine Klassenkameraden halten ihn für ein
Landei. Deshalb vertreibt er sich die Zeit oft damit, durch sein Fernglas aus
dem 20sten Stock in die Wohnungen gegenüber zu sehen.
Auch an dem grauen Dezembertag, an dem die Geschichte
beginnt, sitzt Davie wieder am Fenster. Als er aus purer Langeweile das
Fernglas umdreht – stutzt er. Klar und deutlich erkennt er einen alten bärtigen
Mann mit einer Pudelmütze, der ihm von einem Dach in der City aus zuwinkt.
Davies Neugier ist geweckt, er macht sich auf die Suche und findet ihn schließlich.
Wie diese Begegnung Davie Trost und Hoffnung schenkt, aber
auch die Aussicht auf eine neue Familie, erzählt dieses berührende
Weihnachtsmärchen.
Für Kinder ab 8 Jahren.
Erhältlich bei Amazon
Leseprobe
Zweites
Kapitel
Doch an diesem Abend kam Davies
Mutter, Mrs. Donegal so bedrückt von der Arbeit heim, dass Davie die Sache mit
dem magischen Fernrohr völlig vergaß.
„Davie“, sagte sie mit belegter
Stimme. „Dein Vater hat bei mir im Büro angerufen. Er möchte, dass du mit ihm
und seiner neuen Familie Weihnachten feierst.“
Davie schoss augenblicklich das Blut
in den Kopf. „Aber das will ich nicht“, rief er ganz außer sich. „Das kannst du
ihm ausrichten! – Und überhaupt … Warum lassen wir Weihnachten dieses Jahr
nicht einfach ausfallen?“
„Aber Davie“, entgegnete seine
Mutter erschrocken. „Weihnachten kann man doch nicht einfach ausfallen lassen.“
Sie nahm ihn in den Arm. „Wir machen es uns auch zu zweit gemütlich.“ Sie fuhr
ihm übers Haar. „Alles wie immer. Okay? Baum, Geschenke, Truthahn …“
Davie versteifte sich. „Nichts ist wie
immer.“
Mrs. Donegal sah ihren Sohn
betroffen an. Wo war ihr fröhlicher, unbeschwerter Davie geblieben? War er
wirklich dieser Junge mit dem mürrischen Gesicht? Sie ließ das Thema
‚Weihnachten‘ erst einmal auf sich beruhen.
Trotzdem war an diesem Abend der
Wurm drin.
Nach dem Essen legte Davies Mutter
das Besteck beiseite. Davie sah ihr an, dass sie etwas loswerden wollte, etwas
das ihr anscheinend ziemlich auf der Seele lag.
„Davie, ich möchte dir was sagen …
Ich hab da jemanden kennengelernt …“
Davie starrte sie an. „Schon
wieder?“
Seine Mutter fuhr zurück. „Sei nicht
gemein, Davie! Es ist eben nicht jeder Erstbeste Mister Richtig.“
„Ist es jeder Viertbeste?“, schoss
Davie patzig zurück und sprang auf. „Willst du mich deshalb an Weihnachten zu
Dad verfrachten?“
„Davie!“, die Stimme seiner Mutter
überschlug sich vor Schmerz und Enttäuschung. „Denkst du das wirklich?“
Aber da war Davie schon in sein
Zimmer gerannt.
Er warf sich aufs Bett. Dad hatte
sie verlassen und danach hatte Davie Dad verlassen. Er wollte nichts mehr mit
ihm zu tun haben. Sollte er glücklich werden mit der Neuen und dem neuen Kind.
Mum und er brauchten ihn nicht. Normalerweise sprachen sie nicht mal über ihn.
Das Jahr vor der Trennung war ein
schlimmes Jahr gewesen. Mum hatte später gesagt, sie hätte Dad nie heiraten
dürfen. Aber sie hatte es eben doch getan. Seinetwegen, Davies wegen. Mum war
mit achtzehn schwanger geworden. Dad und sie kannten sich damals noch nicht
sehr lang. Davie wusste nur, dass Mum das Baby, also ihn, unbedingt haben
wollte. In New York wäre das kein Problem gewesen. In einem kleinen Städtchen
in Wisconsin aber war es ein Problem. Oma und Opa mussten ziemlich Ärger
gemacht haben, und dann hatte sich auch noch der Pastor eingemischt. Heiraten
sollten die jungen Eltern, damit alles seine Ordnung hatte. Und schließlich
heirateten sie tatsächlich. Mum sagte mal, sie habe Dad zwar gemocht, aber
Liebe sei es nicht gewesen. Doch sie habe gehofft, dass die Liebe mit der Zeit
käme.
Davie verschränkte die Arme hinter
dem Kopf und fixierte die Schatten an der Zimmerdecke.
Liebe. Die beiden passten einfach
nicht zusammen. Ihm war das lang gar nicht aufgefallen. Für ihn war ja auch
alles in Ordnung. Er stromerte draußen herum, spielte mit Groovy und Steve und
besaß ein schönes großes Zimmer mit allem, was ein Junge so brauchte. Auch als
Mum ins Gästeschlafzimmer zog, hatte er sich noch keine Sorgen gemacht. Dad
ging an den Wochenenden oft mit ihm zum Fischen oder ins Stadion, wenn die
Brewers spielten. Aber ganz allmählich wurde das immer seltener. Und dann waren
Mum und er oft allein an den Abenden und an den Wochenenden. Wenn Dad jedoch
mal da war, gab es nichts als Streitereien. Eines Tages zog Dad schließlich
aus. Davie hatte am Fenster gestanden und zugesehen, wie er zwei große Koffer
in den Jeep warf. Erst dachte Davie, dass er bald wieder heimkommen würde. Aber
da hatte er sich getäuscht. Als Mum nämlich erfuhr, dass Dad mit einer anderen
Frau ein Kind erwartete, reichte sich die Scheidung ein.
Davie krampfte es heute noch den
Magen zusammen. So leicht war das also. Man besorgte sich einfach eine neue
Familie, wenn es mit der alten nicht klappte. Aber das Schlimmste war, dass
Davie oft dachte, dass er an allem schuld war. Ohne ihn hätten die beiden nie
geheiratet. Ohne ihn wäre Mum sicher viel glücklicher geworden. Dad konnte ihm
gestohlen bleiben. Davie ging nie ans Telefon, wenn sein Vater ihn sprechen
wollte und er weigerte sich bis heute standhaft, ihn zu besuchen.
Fast ein Jahr lebten Mum und er noch
in dem weißen Häuschen mit der Veranda. Dann zog Mum den Schlussstrich. So
hatte sie das damals genannt. Sie verkaufte das Häuschen und bewarb sich um die
Stelle in New York. Davie verstand ja, dass sie neu anfangen wollte. Aber für
ihn war es einfach schrecklich gewesen. Er fühlte wieder diese dunkle,
trostlose Traurigkeit hochsteigen, die seither immer in ihm lauerte.
Noch beim Frühstück am nächsten Morgen
herrschte dicke Luft. Es kam selten vor, dass Davie und seine Mutter sich nicht
vertrugen. Aber jeder von ihnen knabberte noch an dem Streit von gestern.
Nach der Schule machte sich Davie
nicht sofort auf den Heimweg. Es wartete ja niemand auf ihn. Die seltsame
Fernglaserscheinung von gestern zog ihn in die Innenstadt. Er wollte wissen, ob
das gestern eine Fata Morgana gewesen war. Und wenn nicht – was es dann gewesen
war.
Ein Gutes hatte New York, wenn man
die Hauptrichtungen kannte, konnte man sich kaum verlaufen. Fast alle Straßen
waren wie auf einem Schachbrett angeordnet. Entschlossen bog er in die 40ste
Straße West ein.
Es war ein grauer Tag, nasskalt und
ebenso trüb wie seine Stimmung. Eisiger Wind zog durch die Häuserschluchten.
Davie rieb sich die Hände. Verdammt, warum hatte er seine Handschuhe daheim
liegen lassen? Gut, dass er wenigstens eine Mütze mithatte. Seine Nase tropfte.
Die Leute hetzten an ihm vorüber.
Hier in New York hatten es immer alle eilig. Daran hatte er sich auch erst
gewöhnen müssen. Alles hier war schneller, lauter, größer, greller. Alles war
irgendwie übertrieben.
In den Schaufenstern glitzerte und
blinkte es. Gold und Silber, Grün und Rot. Sterne, Engel, Zwerge – und
natürlich Weihnachtsmänner. Schnarchende, singende, beleuchtete, welche mit und
ohne Rentier.
Und dann, vor dem Eingang von Macys: ein Weihnachtsmann aus
Fleisch und Blut. Er bimmelte in einem knallroten, weiß abgesetzten Samtkostüm
mit einer Glocke.
Peinlich, dachte Davie. Sein Bart
sieht so billig aus! Nicht mal ein Blinder würde darauf reinfallen.
„Hoho!“, grölte der Mann im Kostüm,
als Davie an ihm vorbeikam. „Fröhliche Weihnachten.“ Mit aufgesetztem Grinsen
hielt er ihm einen Korb mit Werbegutscheinen unter die Nase.
Davie schüttelte den Kopf und ging
weiter. Der falsche Weihnachtsmann zog eine beleidigte Grimasse, aber das bekam
Davie nicht mehr mit.
Als die 40ste auf die Park Ave
stieß, schwenkte Davie nach rechts. Er war sich fast sicher: Das Hochhaus mit
dem grünen Türmchen musste irgendwo in der Nähe des Hauptbahnhofs stehen.
Inzwischen durchbohrte in die Kälte wie Nadelstiche, sein Ärmel war vom vielen
Nasewischen widerlich feucht. Aber bis zum Bahnhof war es jetzt nicht mehr
weit. Schon von Weitem sah er den Bahnhofseingang mit den griechischen Säulen.
Allerdings musste er auf die andere Seite, zu dem hohen Teil des Gebäudes, in
dem früher einmal die Verwaltung untergebracht war.
Der Wind pfiff hier noch ärger.
Davie zog die Mütze tief in die Stirn und begann zu rennen. Tatsächlich wurde
ihm dabei wärmer. Nach einem ordentlichen Dauerlauf war er endlich am Ziel.
Einem schnaubenden Drachen gleich, quoll ihm weißer Dampf aus Mund und Nase.
Puh, jetzt hatte er auch noch Seitenstechen! Er war ja völlig aus dem Training!
Steve hätte ihn wahrscheinlich um Längen abgehängt und dabei kein bisschen
Seitenstechen gehabt. Davie atmete ein paarmal tief durch. Dann reckte er den
Kopf.
Das Gebäude, das er suchte, musste
eines von den höheren sein. Aufmerksam ging er die Park Ave hinauf. Hier stand
ein Hochhaus am anderen. Eine Backsteinkirche mit verschnörkelten Verzierungen
an den Fenstern kauerte wie ein verschüchtertes Kaninchen inmitten der
hochragenden Konkurrenz.
Und dann blitzte in Davies Kopf
plötzlich der Funke des Erkennens auf.
Das da vorn konnte es sein! – Das da
vorn war es!
Er wechselte auf die andere
Straßenseite, um das Gebäude besser betrachten zu können. Der imposante Bau
ragte weit nach oben und besaß nicht ein, sondern zwei Türmchen, die den
Abschluss einer größeren Plattform bildeten. Von dieser Plattform aus musste
der Mann ihm zugewinkt haben.
Vita:
Brigitte Endres hat Grundschulpädagogik, Germanistik und
Geschichte studiert. Heute arbeitet sie als Kinderbuchautorin für Verlage in
Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie für den Bayerischen Rundfunk.
Ihre Bücher wurden in viele verschiedene Sprachen übersetzt. www.brigitte-endres.de
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