Diesmal verläuft das Weihnachtsfest für die Zwillinge
Joschi und Laura sehr enttäuschend, keiner ihrer Herzenswünsche wird erfüllt.
Jetzt erst erfahren sie: Der Vater hat seinen Job verloren. Noch am selben
Abend geraten die Kinder in den Sog einer magischen Spieluhr, die sie in die
Vergangenheit katapultiert. Als sie zurückkommen, wissen sie, um was es an
Weihnachten wirklich geht …
Eine berührende Geschichte über Liebe, Hoffnung und
Zusammenhalt. Zum Vorlesen und Selbstlesen für Kinder ab 8 Jahren.
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Leseprobe
Die Spieluhr bringt die Zwillinge zunächst ins Jahr 1905, wo sie die gleichaltrige
Luise und das schwerkranke Minchen
kennenlernen. Als sie schließlich versuchen, in ihre Gegenwart zurückzukehren
landen sie zu früh, nämlich 1945.
6. Kapitel
„Mist!“, stieß Joschi aus.
Lara sah sich erschrocken um. „Aber der Zeiger hat sich doch nach vorn
gedreht!“
„Anscheinend nicht lange genug“, erwiderte Joschi gepresst, während er
versuchte, sich in dem schlecht beleuchteten Raum zu orientieren.
Lara schnüffelte. „Mann, riecht das hier muffig! Ich glaub, wir sind in
einem Keller gelandet!“
Nur durch zwei matte kleine Fenster unterhalb der Decke, von denen eines
einen dicken Sprung hatte, der notdürftig mit Fensterkitt geklebt war, fiel
etwas Licht herein. Ganz allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die
Dunkelheit. In einer Ecke lagen zwei Matratzen, darauf zerschlissenes Bettzeug,
daneben zwei schäbige Koffer und ein Gestell mit einer Waschschüssel. Ein kleiner
Tisch, ein Hocker, zwei Stühle, ein wackliges Regal auf dem ein wenig Geschirr
und Kochgerät abgestellt waren, bildeten die Einrichtung. An der Wand stand ein
alter gusseiserner Ofen. Das Ofenrohr führte durch ein behelfsmäßig mit Lappen
ausgestopftes Loch ins Freie.
Lara stöhnte auf. „Wo sind wir bloß diesmal gelandet?“
Joschi schob einen Stuhl unters Fenster und kletterte hoch. „Du lieber
Himmel!“, rief er.
Lara holte sich rasch den zweiten Stuhl. Fassungslos sahen sie hinaus.
Gegenüber stand die vertraute Kirche, doch waren die schönen alten
Buntglasfenster mit Brettern vernagelt. Am Straßenrand türmten sich
schneebedeckte Schutthaufen von Steinen und Ziegeln. Es sah aus, als habe ein
Erdbeben alles dem Boden gleich gemacht und nur die Kirche verschont.
Völlig unerwartet öffnete sich die abgeblätterte Tür, ein Junge kam
herein. Lara und Joschi drehten sich erschrocken um. Der Junge schleppte ein
Bündel kurzer Bretter, das er schwungvoll vor den Ofen warf. Dann kniete er
nieder und hantierte an der Feueröffnung. Lara sprang vom Stuhl.
Erschrocken richtete sich der Junge auf. Er trug eine kurze Hose,
darunter lange Strümpfe, die selbst gestrickt und rau wirkten. Seine Füße
steckten in abgewetzten Schuhen. Aus der Jacke war er ganz offensichtlich
herausgewachsen, darunter spitzte ein geringelter Pullover hervor.
Der Junge gaffte die Zwillinge feindselig an. Nach dem ersten Schreck
nahm er mit funkelnden Augen ein Stück Holz vom Boden und richtete es drohend
gegen die Eindringlinge. „He, was macht ihr hier! Raus mit euch!“
Lara war leichenblass geworden. Sie klammerte sich an ihren Bruder, der
ebenfalls vom Stuhl geklettert war.
Aber Joschi, der es gar nicht mochte, wenn ihm jemand so kam, blaffte
sofort zurück. „Reg dich ab! Wir sind schließlich nicht freiwillig hier.“
Der Junge, er war nicht viel älter als die Zwillinge, fuhr sich mit der
freien Hand unschlüssig durch die braunen Haare, während er mir der anderen
noch immer das Holz umklammerte. „Ihr wollt uns doch nur beklauen“, sagte er
barsch.
„Beklauen?“, Joschi blickte sich kopfschüttelnd um. „Hier? Was könnte
man denn hier schon klauen?“
„Heutzutage können die Leute alles gebrauchen – zum Beispiel was zum
Anziehen.“ Stirnrunzelnd musterte er die Zwillinge, die in Nachthemd und
Schlafanzug vor ihm standen.
Lara sah verlegen an sich herab. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen.
„Hör mal, was uns passiert ist, ist eine total verrückte Geschichte …“ Damit
begann sie, dem verdutzten Jungen die Sache mit der Weihnachtszeitmaschine zu
erzählen. „Und das hier ist mein Zwillingsbruder Joschi, und ich heiße Lara“,
beendete sie ihren Bericht.
Der Junge warf das Brett zu den anderen und steckte die Hände in die
Hosentaschen. „Das ist wirklich eine verrückte Geschichte“, sagte er. „Ich bin
übrigens Karl. – Und das soll ich euch glauben?“
Joschi zuckte mit den Schultern. „Glaub, was du willst! Aber sag mal,
welches Datum haben wir heute?“
„Heute ist Weihnachten“, sagte Karl. „Der 24. Dezember 1945.“
Lara seufzte. „So ein Mist, dann sind wir um Jahrzehnte zu früh gelandet.“
Sie zeigte zu den Fenstern. „Was ist denn da draußen los, war das ein
Erdbeben?“
Karl lachte bitter. „So kann man es auch nennen! Wisst ihr das wirklich
nicht?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „So was macht der Krieg – die Bomben!
Kapito? Alles ist futsch. Von unserem Haus steht nur noch der Keller. Wir sind
völlig ausgebombt. Das hier“, er deutete niedergeschlagen auf die wenigen
Habseligkeiten, „ist alles, was wir noch haben.“ Er senkte den Kopf. „Aber das
ist nicht das Schlimmste!“
Lara konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was es noch
Schlimmeres geben könnte, als allen Besitz zu verlieren.
„Vater wird vermisst“, fuhr Karl leise fort. „Er ist noch nicht
zurückgekommen. Dabei ist der Krieg schon seit Mai zu Ende. Mutter und ich
warten auf ihn, jede Stunde, jeden Tag, seit Monaten.“
„Ist er Soldat?“, wollte Joschi wissen.
Karl nickte. „Was dachtest du denn?“ Er wendete den Kopf ab. Die
Zwillinge bemerkten trotzdem, dass er mit den Tränen kämpfte. „Es sind so viele
gefallen, mein Onkel auch. Wir haben seit Monaten keine Nachricht von Vater.
Wir wissen gar nichts. Vielleicht ist er in Gefangenschaft, aber vielleicht ist
er auch …“ Karl sprach nicht weiter.
Karls Schmerz machte auch den Zwillingen das Herz schwer. Lara dachte an
Luise und Minchen und an die wundersamen Dinge, die sie erlebt hatten.
„Aber an Weihnachten geschehen manchmal die wunderbarsten Dinge“, sagte
sie.
„Ein Wunder …?“ Karl zuckte mit den Schultern. Dann gab er sich einen
Ruck. „Dass ihr hier seid, ist allerdings tatsächlich eines. Was mach ich jetzt
bloß mit euch? Mutter wird sicher nicht über euren Besuch begeistert sein, das
Essen reicht kaum für uns.“
„Mach dir keine Gedanken, außer dir kann uns wahrscheinlich keiner
sehen!“, beruhigte ihn Joschi. „Und hungrig sind wir nicht. Aber wir müssen
unbedingt bis zur Christmette hier bleiben, sonst funktioniert die
Weihnachtszeitmaschine nicht. Wir werden euch ganz bestimmt nicht stören.“
Noch ehe Karl antworten konnte, knarrte die Tür und eine junge, schmale
Frau mit einem Kopftuch und einem schweren Lodenmantel kam herein.
Ohne von den Zwillingen Notiz zu nehmen, band sie das Tuch ab und
schüttelte es aus. „Es schneit schon wieder! Muss dieser Winter denn so kalt
sein? Sind wir nicht schon gestraft genug?“
Mit einer müden Bewegung nahm sie einen grünen Stoffrucksack vom Rücken
und zog den nassen Mantel aus. „Gott, bin ich erledigt!“, stöhnte sie und
blickte sich suchend um. „Warum stehen denn die Stühle da drüben?“
Karl lief los und schob die beiden Stühle zum Tisch zurück. Seine Mutter
setzte sich und zog ächzend die Schuhe aus. „Meine Füße sind die reinsten
Eiszapfen. Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich heute gelaufen bin – bis
Kleinteuersdorf. Die Bauern werden immer unverschämter. Jetzt sind wir auch
noch Großmutters Silberarmband los – für sechs Eier, ein bisschen Butter und
Mehl.“ Sie sah zu Karl hin, der sich am Ofen zu schaffen machte. „Und du hast
Holz beschafft?“
Karl nickte stolz. Emil und ich haben in der Bismarckstraße eine Ruine
gefunden, wo noch was zu holen ist.“
Die Mutter, die sich die Füße rieb, sah erschrocken hoch. „Passt bloß
auf mit den Blindgängern! Was ist, wenn so eine vergessene Bombe losgeht?“
„Mach dir keine Sorgen, Mutter, wir passen schon auf!“ Damit zündete
Karl das Feuer an.
Während das Feuer nun anheimelnd prasselte und durch die Fugen des alten
Ofens ein warmroter Schein in den düsteren Raum sickerte, packte die Mutter
ihre Schätze aus dem Rucksack.
„Für die Lebensmittelmarken kriegt man kaum noch was. Dafür kann man
dann auch noch stundenlang anstehen. Dass wir Städter ums Betteln und Hamstern
gar nicht herumkommen, wissen die Bauern leider zu gut, sie werden immer
unverschämter. Aber zum Glück gibt es auch gute Seelen. Schau!“ Die Mutter
packte eine kleine Wurst aus. „Die hat mir eine Bäuerin geschenkt, weil
Weihnachten ist.“
Karl machte einen Freudensprung. „Eine Rotwurst!“
„Die Feiertage sind gesichert“, sagte die Mutter lächelnd. „Heute backe
ich Pfannkuchen und morgen gibt es Kartoffeln und Wurst. Was hältst du davon?“
„Eine ganze Menge!“, rief Karl begeistert. „Aber ich hab auch eine
Überraschung!“ Er ging vor die Tür und kam mit einem großen Fichtenzweig wieder
zurück. Dann kramte er stolz ein paar Kerzen aus der Jackentasche.
Über das Gesicht der Mutter flog ein freudiges Strahlen. „Wo hast du das
nur alles her?“
Karl grinste geheimnisvoll. „Emil und ich sind eben auch gut im
Organisieren.“
Allmählich wurde es dunkel. Die Mutter knipste das Licht an. Eine
schwache Glühbirne, die verloren an der Decke hing, spendete wenig ungemütliches
Licht. „Gott sei Dank“, seufzte sie. „Wenigstens haben wir heute Strom.“
Dann schickte sie Karl hinaus, einen Eimer Wasser zu holen. Als er
wiederkam, hatte sie aus einem der alten Koffer ein sauberes Hemd
herausgesucht. „Wasch dich und zieh dich um.“
Karl goss etwas Wasser in die Waschschüssel und wusch sich Gesicht und
Oberkörper. Dann kämmte er sich die Haare mit einem nassen Kamm. Wie frisch
gegelt glänzten sie jetzt.
Seine Mutter betrachtete ihn. „Gut siehst du aus. Du wirst deinem Vater
immer ähnlicher.“ Sie stockte und begann ganz plötzlich zu schluchzen.
Karl nahm sie in den Arm. „Nicht weinen Mutter! Heute ist doch
Weihnachten.“ Er sah zu Lara und Joschi hinüber, die beklommen auf einer
Matratze saßen. „Vielleicht geschieht ja ein Wunder“, flüsterte er.
Seine Mutter drückte ihn fest an sich. „Ein Wunder?“, wiederholte sie
tonlos und schluckte ihre Tränen hinunter.
„Komm, jetzt schmücken wir unseren Fichtenzweig“, entschied Karl.
Seine Mutter nickte tapfer. Sie schleppte einen alten Keramikkrug herbei
und stellte den Zweig hinein. Mit etwas Draht befestigte Karl die Kerzen daran.
Dann kramte er aus einer abgeschabten Lederschultasche ein paar Strohsterne und
hängte sie dazu.
„Die haben wir im Unterricht gebastelt“, sagte er.
Seine Mutter zog ein sauberes Kleid an und steckte sich die Haare hoch.
Als sie fertig war, zündete Karl die Kerzen an und knipste das elektrische
Licht aus.
Die Mutter legte den Arm um ihn. „Schön ist er, unser kleiner
Christbaum. Fröhliche Weihnachten, Karl!“ In ihren feuchten Augen spiegelte
sich der Lichterglanz.
Karl sah scheu zu ihr hoch. „Fröhliche Weihnachten, Mutter!“
Dann schwiegen sie, standen nur da und ihre Gedanken schienen weit, weit
weg zu sein.
Durch den warmen Luftstrom der Kerzen bewegt, warfen die Strohsterne
bizarre Schatten an die Kellerwand. Im Ofen knisterte das Feuer, ein alter
Wecker auf dem Regal tickte gleichmäßig.
Die beiden auf dem Matratzenlager beobachteten Karl und seine Mutter
voller Mitgefühl. Lara dachte darüber nach, was der Großvater gesagt hatte. Wie
sehr sie Karl und seiner Mutter jetzt ein Wunder wünschte!
Vita:
Brigitte Endres hat Grundschulpädagogik, Germanistik und
Geschichte studiert. Heute arbeitet sie als Kinderbuchautorin für Verlage in
Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie für den Bayerischen Rundfunk.
Ihre Bücher wurden in viele verschiedene Sprachen übersetzt. www.brigitte-endres.de
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