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Leseprobe
»Kommt,
lasst uns zu August gehen. Ich glaube, da ist ein neues Kälbchen
geboren worden.« Ole hatte es ganz wichtig. Von seiner großen
Schwester Nele, die schon 16 war, hatte er die Neuigkeit
erfahren. Und nun wollte er natürlich nichts schneller, als mit
seinen Freunden das Kälbchen anzuschauen. Vielleicht konnten sie
das kleine Tier mal streicheln, das wäre echt toll.
»Oh
ja, ein Kälbchen, wie schön.« Charli hüpfte gleich hellauf
begeistert auf der Stelle auf und ab. Jens stimmte fröhlich ein. Als
die drei losliefen, fiel ihnen zum Glück ein, dass Vivian ja
noch da stand.
»Komm,
Vivian, los!«, rief Charli. Vivian trottete hinterher. Sie war
überhaupt nicht wild darauf, in einen dreckigen und stinkenden
Kuhstall zu gehen. Aber was sollte sie schon machen?
»Guten
Tag, Herr August«, begrüßten die Kinder August freundlich. Sie
spürten, dass er heute nicht so mies gelaunt war. Sicher lag das an
dem kleinen neuen Kälbchen. Der August hatte schon graue Haare,
die unter dem braunen Hut hervorschauten. Der Hut schien auf
seinem Kopf angewachsen zu sein, denn ohne dem kannten die
Kinder den August nicht. Genauso, wie die blauen Arbeitshosen, die
der August ständig trug. Nur das Hemd schien er ab und an zu
wechseln. Der August hatte tiefe Falten in seinem gebräunten
Gesicht. Am tiefsten war die Falte zwischen den Augen, über der
Nase. Die ließ ihn bedrohlich grimmig aussehen. August hatte
breite Schultern, überhaupt war er ganz schön stark. Was der alles
schleppen konnte! Da staunten die Kinder oft.
»Wollt ihr wieder Limonade?«, fragte er.
»Ja...
Nein... Eigentlich wollten wir das neue Kälbchen anschauen«,
stotterte Ole etwas rum und rückte seine Brille zurecht.
»So, so, das neue Kälbchen. Habt ihr also schon davon gehört?«
Die Kinder schauten August erwartungsvoll an.
»Und wen habt ihr heute noch mitgebracht, ein richtiges kleines Fräulein?«
Vivian wurde rot. Was wollten bloß dauernd alle von ihr? Es reichte doch schon, wenn es hier überall so stank.
»Das ist meine Cousine Vivian«, erklärte Charli. »Sie ist den Sommer bei uns zu Besuch.«
»Soso.
Na dann kommt mal mit.« August machte eine einladende Handbewegung
und schlurfte in seinen schwarzen Gummistiefeln in den Stall.
Da
stand es nun, auf ganz wackeligen Beinen. Ein kleines braunes
Kälbchen mit ein paar vereinzelten weißen Flecken und ganz
großen schwarzen Augen. Es war mit seiner Mama in einer mit
Holzbrettern eingezäunten Box und drängte sich ganz arg an sie.
»Och ist das niedlich. So klein. Wie heißt es denn?«, wollte Charli wissen.
»Es
hat noch keinen Namen. Von mir aus könnt ihr ihm einen geben«,
brummelte August. Er freute sich auch sehr über das Kälbchen, konnte
es aber gar nicht richtig zeigen.
»Wie wollen wir es nennen?«, fragte Ole.
»Lassen
wir doch Vivian einen Namen aussuchen«, schlug Jens vor, der dabei
einen verstohlenen Blick auf Vivian warf. Ihre langen blonden
Zöpfe gefielen ihm. Und Vivians Augen waren blau wie das Meer.
So richtig hübsch, fand Jens. Charli wollte sich beschweren,
hielt dann aber doch ihren Mund. Jens setzte sein Basecup ab,
fuhr sich durch seine schulterlangen Haare, setzte die Mütze wieder
auf und fragte Vivian »Magst du einen Namen für das Kuhbaby
finden?«
Vivian
zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht so recht, fühlte sich
aber ganz schön geschmeichelt, dass Jens sie gefragt hatte. Sie
überlegte schnell und sagte dann »Resi, nennen wir es doch
Resi.«
»Resi
gefällt mir.« Jens war sofort einverstanden. Ole und Charli
schauten sich an, zogen beiden die Augenbrauen hoch, nickten
dann aber zustimmend mit dem Kopf.
»Na da habt ihr ja Glück, dass es sich um ein Kuhmädchen handelt. Da passt Resi zufällig«, entgegnete August.
»Resi,
Resi komm mal her«, lockte Charli das Kälbchen. Resi hatte zwar
Angst, aber die Neugierde siegte und so kam sie zu den Kindern. Sie
versuchte gleich, irgendetwas zum Saugen zu finden und
erwischte die Hand von Charli, die sie über den Holzverschlag
hängen ließ. Sofort fing das Kälbchen kräftig mit saugen an.
Zschlüz, zschlüz, zschlüz schmatzte es kraftvoll. »Hui ist das ein
komisches Gefühl, hihihi«, kicherte Charli und streichelte den Kopf
von Resi mit der anderen Hand.
»Lass mich auch mal!«, forderte Ole und schob Charli fast bei Seite.
Jens
wollte das Kälbchen natürlich auch streicheln und langte über den
Zaun. Vivian stand mit ihren Lackschuhen im Stallmist. Am
liebsten wäre sie weggelaufen, aber ein klein wenig wollte sie
auch das Kälbchen sehen. Völlig entsetzt sah sie zu, wie Charli
die Finger in das Maul des Kälbchens steckte. Wenn die Resi in
die Finger beißt?
»Magst du auch mal?«, fragte Jens, der inzwischen bei Resi zum Streicheln kam.
»Nee, die beißt mir doch die Finger ab«, antwortete Vivian kopfschüttelnd.
»Das
Kälbchen kann dich nicht beißen«, erklärte August, der den Kindern
zusah. »Seine Zähne sind noch nicht da. Es will nur saugen.
Kleine Kälber haben nämlich immer Hunger.«
Vivian
wollte das nicht so richtig glauben, was der alte Mann da sagte.
Aber trotzdem wagte sie sich etwas näher an Resi heran. Sie
lehnte sich an den Holzverschlag und streckte zögernd ihre Hand
aus. Resi sah ihre Chance und wollte gleich bei Vivian saugen.
Das erschreckte sie so sehr, dass sie ruckartig zurücksprang.
Dabei blieb sie mit ihrer Bluse am Holz hängen, es machte Ratsch und
die schöne weiße Bluse hatte einen Riss. Vivian bemerkte es und die
Tränen stiegen ihr in die Augen. Die anderen drei sahen, was
passiert war, aber keiner lachte Vivian aus.
»Das
kann man bestimmt flicken«, tröstete August das Mädchen. »Das
nächste Mal ziehst du dir einfach etwas an, was besser in den
Stall passt.«
Vivian
war schockiert, die schöne Bluse war kaputt. Und dann auch noch die
schleimige Zunge von dem Kalb. Das hatte an ihrer Hand gesaugt.
So etwas hatte Vivian noch nie erlebt. Igitt war das ekelig.
Vivian erfasste ein Schüttelschauer, der sie den Kopf zwischen
ihre Schultern ziehen ließ. Das Kalb ließ sich davon nicht
beirren und versuchte aufdringlich, irgendetwas von Vivian zu
erwischen, um daran zu saugen. Das sah putzig aus. Eigentlich total
süß. Dieses kleine Kuhkind hatte offensichtlich einen Narren an
Vivian gefressen. Aber das interessierte Vivian im Moment gar nicht. Sie wollte nur weg hier.
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