Leseproben für kleine Schmökerratten
- Kinderbücher von Indie-Autoren

Montag, 2. Januar 2012

Kinder erzählen von Sigrid Wohlgemuth

Tauch ein in meine Welt

Meine Eltern und ich, Manolis, sind zum Ende der Sommerferien aus Milatos, einem kleinen Fischerdorf auf der Insel Kreta in die Waldstadt Eberswalde umgesiedelt. Mein Vater hat als Griechischprofessor eine Anstellung an der ansässigen „Albert Einstein“- Gesamtschule erworben. Wir bezogen ein kleines Haus am Stadtrand. Mir blieb wenig Zeit, um meine neue Nachbarschaft zu erkunden, schon steht der erste Schultag vor der Tür. Ich gehe zeitig aus dem Haus und bemerke, dass aus dem Nachbarhaus ein Junge, auf dem Rücken einen Schulranzen und ungefähr in meinem Alter, schritt. „Hey“, rufe ich. „Ich heiße Manolis. Wir sind ins Nachbarhaus gezogen. Wie heißt du?“ Ich bemerke erst dann, als ich keine Antwort erhalte, dass der Junge einen Kopfhörer aufhat. Ich laufe auf ihn zu und stupse ihn an seiner Schulter an.

„Hey, ich heiße Manolis, und du?“

„Daniel.“

„Gehst du auch in die Europaschule?“, frage ich. Er nickt und sieht mich kurz an, dann geht er ohne mich weiter zu beachten seines Weges. Ich laufe hinter ihm her und stoße ihn nochmals an.

„Wir könnten den Schulweg gemeinsam gehen.“

„Ich gehe alleine.“ Daniel lässt mich einfach stehen. Ich sehe ihm mit verdutztem Gesicht hinterher. Die erste Schulstunde erweist sich als ziemlich locker. Unsere Lehrerin stellt mich vor, weil ich der einzige Neue in der Klasse bin. In der Pause gesellen sich meine Mitschüler um mich herum, um alles über mein Leben in Griechenland zu erfahren. Daniel steht abseits, vertieft in ein Gameboyspiel. Die nächsten Stunden gehen ins Land und wir bekommen nur eine Aufgabenstellung für den nächsten Tag auf. Jeder soll etwas mitbringen, womit er sich in den Ferien am häufigsten beschäftigt hat. Ich warte nach der Schule am Torbogen auf Daniel, der versunken in sein Gameboyspiel an mir vorbei geht, ohne mich zu bemerken.

„Ich habe auf dich gewartet, Daniel. Hast du Lust heute Nachmittag zu mir nach Hause zu kommen?“, frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf. Nun wenigstens hat er gehört, was ich ihn fragte.

„Warum nicht? Wir könnten Freunde werden“, versuche ich es erneut.

„Ich will keine Freunde.“ Daniel packt sein Spiel in den Ranzen und geht schneller.

Ich bleibe zurück und schlendere vorbei an den Auslagen der Geschäfte nach Hause. „Wie war dein erster Schultag?“, fragt meine Mutter, als ich die Türschwelle überschreite.

„Super“, antworte ich. „Morgen sollen wir etwas zur Schule mitbringen, womit wir uns im Sommer häufig beschäftigt haben. Ich werde mein Tavli mitnehmen.“

„Wenn du Tavli sagst, wird es keiner verstehen, es ist hier unter Backgammon bekannt“, sagt meine Mutter. Ich beobachte durch unser Küchenfenster, dass Daniel im Nachbarhaus die Rollos runterlässt.

Ob er so früh schlafen geht?, überlege ich mir.

„So Kinder, welchen Gegenstand habt ihr heute mitgebracht?“, fragt meine Lehrerin. Wir zeigen unsere Mitbringsel vor. Es befinden sich Barbiepuppen, Bücher, hauptsächlich Harry-Potter, Federballspiele, Tennisschläger, Bumerangs, eine Reitgerte, drei Schachspiele, viele Schwimmreifen, gemalte Bilder, verschiedene Bastelarbeiten, Kriegscomputerspiele und vieles mehr unter ihnen.

„Daniel, womit hast du dich am meisten beschäftigt? Du hast keinen Gegenstand mitgebracht?“, fragt die Lehrerin.

„Er war zu schwer. Ich habe die meiste Zeit vor dem Computer verbracht“, antwortet Daniel.

„Warst du mit deinen Eltern nicht verreist?“, fragt die Lehrerin.

„Doch. Wir waren in den Alpen. Im Hotel standen Computer zur Verfügung. Meine Eltern gingen wandern und ich habe den Computer genutzt“, gibt Daniel zur Antwort. „Den ganzen Urlaub über? Warum bist du nicht mit deinen Eltern wandern gegangen?“ Die Lehrerin hat einen verwunderten Gesichtsausdruck.

„Ich hatte keinen Bock“, antwortet Daniel.

Jeder von uns kommt an die Reihe seinen Gegenstand darzubieten. Viele Mitschüler sind von meinem Backgammonspiel begeistert, sodass ich in der Pause die Spielregeln erkläre und wir ein paar Runden austragen. Nach der Schule warte ich am Torbogen auf Daniel.

„Daniel, warum möchtest du nicht mein Freund werden? Wir wohnen nebeneinander.“

Ich muss mich beeilen, dass ich seinem Schritt nachkomme. Daniel setzt zum Spurt an und lässt mich stehen. Wie am Vortag beobachte ich, dass Daniel, sobald der das Haus betritt, in seinem Zimmer die Rollos herunterfährt. Meine Neugierde siegt. Ich gehe über den Rasen zu seinem Haus und drücke auf die Türklingel.


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