Leseproben für kleine Schmökerratten
- Kinderbücher von Indie-Autoren

Dienstag, 6. Oktober 2015

Lulea und ihre Vertrauten von Felizitas Montforts


Klappentext: Es ist Luleas 13. Geburtstag. Ein magischer Tag, gäbe es da nicht ein Problem: Lulea hat noch keinen tierischen Vertrauten. Ohne diesen Begleiter gibt es keinen Hexenbesen, so sind die Regeln. Kurzerhand begibt sie sich auf die Suche, doch die Uhr tickt. Sie muss ihren Vertrauten bis Mitternacht gefunden haben. Auf ihrer Reise begegnet sie einer gefräßigen Spinne, einem kidnappenden Feenvolk und einer diebischen Elster, die sich ihr in den Weg stellen. Als wäre das nicht schlimm genug, läuft sie einer frechen Fee über den Weg, deren missglückter Zauber die Hexe auf Mäusegröße schrumpfen lässt. Zum Glück gibt es aber Schru Schru, den besserwisserischen Sperlingskauz, der auf fast alles eine Antwort weiß. Ob Lulea ihren Vertrauten finden wird?Erhältlich bei Amazon.

Leseprobe
»Heute ist der letzte Tag meines Lebens!«
Mit blassem Gesicht schaute Lulea erst ihre Mutter und dann ihre Großmutter an. Gemeinsam saßen sie am Frühstückstisch, jeder ein frischgebackenes Kürbisbrötchen auf dem Teller.
»Red nicht so einen Unsinn. Der Tag ist noch lang und du hast doch bis morgen Zeit«, antwortete ihre
Mutter, ohne dabei jedoch ihre Sorgen verbergen zu können.
»Seid ehrlich, ihr glaubt auch nicht mehr daran, dass mich mein Vertrauter noch findet. Ich bin eine
Schande für unsere Familie. Ich schwöre dir, bevor ich morgen ohne Vertrauten und meinen Besen zu Fuß zur Schule gehe, schmeiß ich meine Tasche samt aller Schulbücher aus unserer Baumkrone.«
Luleas Mutter schüttelte nur den Kopf über den Wutausbruch ihrer Tochter. Wussten sie doch beide, dass Lulea erstens viel zu vernünftig war, um so etwas zu tun, zweitens ihre braune Ledertasche mit langen Fransen und der bunten Perlenstickerei ihrer Oma über alles liebte und drittens gar nichts aus der Baumkrone werfen konnte.
»Du bist nicht die erste Hexe, die zu ihrem 13. Geburtstag noch keinen Vertrauten hat. Das kommt immer wieder vor«, versuchte ihre Großmutter, sie zu beruhigen.
Jetzt wurde Lulea so richtig wütend. Verstanden die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben wirklich nicht, was es für sie bedeutete, wenn sie heute keinen Vertrauten fand? Sie würde morgen das Gespött ihrer Schulklasse sein. Bestimmt hatte man Wetten darauf abgeschlossen, ob sie mit Vertrautem oder ohne zur Schule kommen würde. Als wäre es nicht schlimm genug, als älteste Schülerin der Klasse und einzige Hexe sowieso, der Sonderling der gesamten Schule zu sein. Nein, sie musste dann auch noch die Hexe sein, die mit dreizehn Jahren noch immer nicht fliegen durfte. Alle anderen Hexen, die Lulea kannte, hatten schon viel früher Ihren Vertrauten getroffen und waren, sobald sie ihren Besen und damit die Erlaubnis zum Zaubern erhalten hatten, mit ihrer Familie in die Hauptstadt gezogen. Das tat man als Hexe, weil es dort die einzige Hexenschule gab. Nur sie hing nach wie vor in diesem öden Wald mit ihrer Familie fest und ging mit Kobolden, Nymphen und Mischwesen in eine Klasse.
»Vielleicht bist du einfach noch nicht so weit. Dein Vertrauter kommt zu dir, wenn er eben kommt. Das kann man nicht erzwingen.«
Außer sich sprang Lulea vom Frühstückstisch auf. Ihre roten Locken schienen Funken zu sprühen. Zum Glück waren Tisch und Stühle fest mit dem Baum verwachsen, in dem sie lebten, sonst wäre garantiert etwas umgefallen. Immer wieder wechselte ihr Blick zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter hin und her. Das konnten sie nicht wirklich so meinen. Aber sie blickten sie an, als wäre alles in bester Ordnung. Frustriert schrie sie auf und schmiss dabei die Arme in die Höhe. Sie brauchte frische Luft! Lulea stürmte aus der Küche und dann weiter nach draußen. Die mitleidigen Blicke ihrer Familie folgten ihr.
Bunte Lichter tanzten vor Luleas Augen und ihr Herz raste in der Brust. »Keine Panik, nur keine Panik!«, versuchte sie, sich selber zu beruhigen. Tief atmete sie die klare Luft ein und wartete, bis die bunten Lichter wieder verschwanden. »Noch nicht so weit? Pah, wenn ihr wüsstet. Bereiter geht es nicht. Ihr werdet euch noch wundern. Man kann seinen Vertrauten vielleicht nicht herbeizwingen, aber man kann zumindest nach ihm suchen und genau das werde ich jetzt tun. Wenn er irgendwo da draußen ist, dann werde ich ihn finden!«
Damit stapfte Lulea entschlossen los und war bald darauf im Wald verschwunden.
Lulea wusste nicht, wie weit sie bereits in den Wald hineingegangen war, als sich ihre Wut endlich legte und der Verstand wieder einsetzte. Es brachte nichts, aufs Geratewohl draufloszurennen. Der Wunschelwald war so groß, dass sie nur einen kleinen Teil von ihm kannte und einen noch winzigeren an einem Tag absuchen konnte. Angestrengt kramte sie in ihren Erinnerungen. Was wusste sie alles über den Vertrauten einer Hexe?
Der Vertraute einer Hexe war zumeist ein Tierkind, welches freiwillig eine magische Bindung mit einer Hexe einging. Meistens bis zum dreizehnten Lebensjahr der Hexe, selten später. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, die ihr das immer und immer wieder erzählt hatte.
Oft war das Zusammentreffen zwischen Vertrautem und Hexe zufällig. Beiden wurde aber sofort klar, dass sie zusammengehörten. In der ersten Zeit konnten sich Hexe und Vertrauter durch ihre Gedanken
verständigen. Bei den meisten Verbindungen legte sich dieser Austausch irgendwann, nur selten hatte man von einer Hexe gehört, bei der er bestehen blieb. Die Hexen gingen davon aus, dass der Gedankenaustausch die Eingewöhnungsphase dieser besonderen Bindung vereinfachen sollte. Lulea wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn jemand alles hörte, was sie dachte. Echt gruselig, aber auch das würde sie in Kauf nehmen, um endlich ihren Besen zu erhalten. Wie sollten ihr diese Informationen aber nun helfen, ihren Vertrauten zu finden? Ein Tierkind also. Was passierte aber mit einer Hexe, deren Vertrauter starb? Tierkinder konnten gefressen werden, oder etwa nicht? Angst machte sich in Lulea breit. Was war, wenn ihr Vertrauter nicht mehr lebte? Wurde dann ein anderes Tier zu ihrem Vertrauten oder würde sie niemals einen bekommen? Nein, daran durfte sie gar nicht denken, das konnte nicht sein.
»Okay, wo hast du in letzter Zeit Tierkinder gesehen?«, fragte sich die kleine Hexe und dachte dabei so angestrengt nach, dass sich auf der Stirn Falten bildeten und sich der Nasenrücken krauste. Sie hätte mehr darauf achten müssen, ihr wollte einfach nichts einfallen. Außer …, nein, das konnte nicht sein. Aber einen Versuch war es wert.
Kurze Zeit später stand Lulea am Fuße einer alten, halbtoten Kiefer. Unschlüssig schaute sie den Baum hinauf. Ein Mal war sie bisher über einen Nachbarbaum in die Krone dieser Kiefer geklettert. Ein halsbrecherisches Unterfangen, wie sie sich im Nachhinein eingestand. Sie hatte aber unbedingt einen Blick auf die jungen Eulen werfen wollen, die dort in einer kleinen Höhle lebten. Wie hatte sie die Zwei entdecken können? Sie waren nicht zu überhören gewesen. Das ständige Gezeter hatte Lulea bereits aus der Ferne vernommen. Ob sie die beiden kleinen Federkugeln dort immer noch finden würde? Und konnte einer der Winzlinge ihr Vertrauter sein? Beim letzten Mal hatte der etwas größere ihr schmerzhaft in den Zeigefinger gebissen, als sie ihn streicheln wollte. Vielleicht hatten sie aber einfach nur einen schlechten Start gehabt. Sie musste es nochmal versuchen.
Prüfend schaute Lulea am Stamm hinauf. Hätte sie doch bloß schon ihren Besen, dann könnte sie ganz einfach hinauffliegen. Dann würde sie aber jetzt auch hier nicht stehen.
»Die Äste sind einfach zu hoch. Keine Chance«, murmelte die Hexe leise vor sich hin. Das Mit-sichselber-Reden half ihr oft, sich zu konzentrieren. Erneut würde sie es über den Nachbarbaum versuchen.
Prüfend zog sie am untersten Ast, ob er ihr Gewicht halten würde. Mit ihren Lieblingsstiefeln versuchte sie, am Stamm den bestmöglichen Halt zu finden, dann ging es hinauf. Kaum, dass Lulea vom ersten Ast hinabschaute, spürte sie das Adrenalin, welches durch ihre Adern schoss. Sie liebte die Höhe, sie liebte das Abenteuer.
»Ha!«, entfuhr es ihr vor lauter Freude. Der schlechte Start in den Tag war vergessen. Je höher sie
kletterte, umso glücklicher fühlte sich Lulea. Bald hatte sie die Höhe des Vogelnestes erreicht. Jetzt nur noch den Baum wechseln, dann war es geschafft. Langsam, Schritt für Schritt, tastete sie sich auf dem Ast vorwärts, auf dem sie stand. Mit den Händen hielt sie sich an einem über ihr hängenden Ast fest. Kurz hielt die Hexe inne, als sich unter ihren Füßen das Holz zu neigen begann. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Ziel.
»Bitte halt mich, bitte! Nur noch ein Stückchen.«
Ein Knacken ertönte. Erschrocken schaute Lulea zurück. Die plötzliche Bewegung brachte sie aus dem Gleichgewicht und die Hexe drohte abzustürzen. Jetzt gab es nur noch den Weg vorwärts.
»Ich schaff das!«, machte sie sich Mut. Beim nächsten Knacken drückte sie sich mit beiden Beinen ab und sprang mit aller Kraft vom schwankenden Ast hinüber in die Kiefer.
Die spitzen Kiefernadeln zerkratzten ihr Gesicht, Arme und Beine, als sie verzweifelt versuchte, Halt zu finden. Vom ersten Ast rutschten ihre Hände ab. Unsanft landete sie mit ihrem Po auf dem darunterliegenden und konnte diesen mit ihren Armen umschlingen. Luleas Herzschlag trommelte ihr in den Ohren. Die Kratzer auf ihrer Haut brannten und beim Blick in die Tiefe begann sich die Welt zu drehen.
»Das war echt knapp.« Erschöpft ließ Lulea ihren Kopf auf dem Ast ruhen, bis sich ihr Puls wieder
beruhigt hatte. Hoffentlich würde sich diese Aktion wenigstens lohnen. Da fiel der Hexe plötzlich auf, dass von oben aus dem Baum gar kein Gezeter mehr zu hören war. Langsam richtete sie sich auf und ließ ihren Blick nach oben wandern. Konnte das sein? Sie würde darauf wetten, dass sie von zwei dunklen, glänzenden Augenpaaren beobachtet wurde.
»Ihr braucht gar nicht so zu gucken. Ihr habt immerhin Flügel«. Bestimmt lachen sich die beiden über
mich kaputt, dachte Lulea und machte sich an die nächste Etappe ihres Aufstiegs. Erschöpft, zerzaust und mit Harz in ihren roten Locken kam Lulea an der kleinen Höhle im Baumstamm an.
Die Eulen hatten sich ins Innere verzogen. Wie sollte sie nun vorgehen? Genau hier hatte sie ja vor einiger Zeit schon einmal gesessen und das hatte schmerzhaft geendet.
»Hallo ihr beiden. Ich heiße Lulea. Nun ja, ich bin eine Hexe und suche nach meinem Vertrauten.«
Irgendwie kam sie sich dabei ziemlich blöd vor. Hier saß sie vor einem Loch im Baum, in dem sich zwei Eulen versteckten, und versuchte, mit denen zu reden. Dazu musste man echt verzweifelt sein. Aber wenn einer der beiden ihr Vertrauter war, dann müsste er sie doch verstehen, oder?
»Wollt ihr denn nicht mal rauskommen? Ich tue euch auch nichts. Versprochen!« Lulea wartete. Keine Eule ließ sich blicken.
Vielleicht müssen sie sich ja erst an mich gewöhnen? Still blieb die Hexe auf dem Ast hocken und wartete darauf, dass sich eines der Eulenkinder sehen ließ. Was, wenn ihre Mutter zurückkam? Lieber gar nicht erst dran denken. Langsam begann Luleas Hintern zu schmerzen. Möglichst leise veränderte sie ihre Position.
Die junge Hexe wusste nicht, wie lange sie bereits gewartet hatte, als am Fuß des Baumes ein verstimmtes »Miauuuuttttzzz« zu hören war. So miaute nur der kratzbürstige Kater ihrer Mutter. Für Lulea klang das immer so, als würde Beißer, wie der Kater hieß, zum Schluss noch durch seine Zähne zischen, damit er sich möglichst böse anhörte. Der schon leicht angegraute Vierbeiner ihrer Mutter hatte diesen Namen wirklich verdient. Lulea wusste nicht, wie oft er sie schon gebissen hatte, nur, weil sie ihm vielleicht etwas zu nahe gekommen war. Wie konnte ihre stille, gutmütige Mutter an so ein Mistvieh geraten? Lulea war es unerklärlich. Okay, ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, dass ihre Mutter in jungen Jahren ein genauso aufbrausender Wildfang gewesen war wie Lulea. Irgendwann musste sich dies aber ins Gegenteil verkehrt haben, nur der Kater hatte von dieser Veränderung nichts abbekommen.
Prüfend schaute sie in den Himmel. Die Sonne stand schon tief. Kein Wunder, dass ihr der Hintern so weh tat. Sie musste bereits seit Stunden auf diesem Ast sitzen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Vorsichtig kroch sie auf dem Ast vorwärts, bis sie direkt vor der Höhle saß.
Angestrengt versuchte Lulea, in dem dunklen Loch etwas zu erkennen. Näher und immer näher kam sie, als plötzlich ein gefiederter Teufel laut zeternd aus der Öffnung geschossen kam und mit seinem Schnabel nach Luleas Nase schnappte.
»Heyyyy …, ahh …, autsch!«, war das Einzige, was sie von sich gab, bis die Hexe unsanft mit dem Popo auf einem Haufen alter Kiefernadeln landete.
Stöhnend stand Lulea auf und rieb sich ihre Kehrseite. Überall in ihren Kleidern und in ihren Locken
hingen trockene Kiefernadeln. Als würden das und die blauen Flecke, die sie morgen mit Garantie haben würde, noch nicht ausreichen, bohrte sich der vorwurfsvolle, ja eher schon tadelnde Blick von Beißer in ihren Rücken. Hoffentlich erzählte er ihrer Mutter nicht, was hier passiert war. Groß war ihre Hoffnung auf das Stillschweigen des Katers jedoch nicht. Was aber noch viel schlimmer war: Die Tatsache, dass der Tag fast vorbei war und sie immer noch keinen Vertrauten hatte.
Der Rückweg dauerte gefühlt bestimmt doppelt so lange, wie Lulea zu den Eulen hin gebraucht hatte. Ihr Hintern schmerzte und genervt zupfte sie sich Harz und Nadeln aus den Haaren, wobei einige rote Strähnen mit dranglauben mussten. Irgendwann erreichte Lulea dann aber doch die ihr wohlbekannte Lichtung. Einem Wanderer, der zufällig auf diesen Lichtfleck im Wald traf, sollte bei einer oberflächlichen Betrachtung nichts Außergewöhnliches auffallen. Lulea fielen die Besonderheiten aber sofort ins Auge. Am Waldrand blieb sie stehen und betrachtete ihr Zuhause. Der kreisrunde Rand der Lichtung war viel zu ebenmäßig, als dass er eine natürliche Herkunft haben könnte. Die Lichtung selber war mit saftig grünem Gras bewachsen und wurde durch keinen herumliegenden Ast oder struppigen Busch in seiner Schönheit gestört. Exakt in der Mitte befand sich ein Kreis aus kleinen roten Pilzen, der ein großes Geheimnis barg. Jedes Mal, wenn Lulea an die Kraft des Zaubers dachte, der hier herrschte, überkam sie pure Ehrfurcht. Langsam näherte sie sich dem Pilzkreis. Deutlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die nach ihr rief.
»Lulea, trödel nicht so rum. Komm endlich Abendbrot essen, sonst verfüttere ich es genauso wie dein
Mittagessen an das Schrubbel«.
Mit einem »Miaaauuutttzzz«, was so viel hieß wie »Beeil dich endlich!«, verschwand Beißer im Pilzkreis.
Prüfend strich die junge Hexe über ihre Kleidung. Im Rock klaffte ein langer Riss, den sie sich bei ihrem Absturz zugezogen hatte. Lulea hoffte, ihn durch die vielen Falten im Stoff vor den Blicken ihrer Mutter und ihrer Großmutter verbergen zu können. Das Harz an ihren Fingern konnte von allem möglichen stammen.
Die restlichen verklebten Stellen in ihren Locken würde sie rausschneiden müssen, da half sonst nichts. Die Kiefernadeln hatte sie, so gut es ging, aus Kleidung und Haaren entfernt. Jetzt musste sie nur noch das Abendbrot überstehen.
Tief holte Lulea Luft und trat durch den Pilzkreis. Kurz schien die Welt sich zu strecken und zu dehnen, dann stand die Hexe auf einer drei Mal so großen, mit Gras und kleinen Blümchen bewachsenen Lichtung, in deren Mitte ein riesengroßer, jedoch schief und krumm gewachsener Baum stand. Das war ihr Baumstammhaus, in dem sie, so lange sich die junge Hexe erinnern konnte, mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter lebte. Der Zauber, der von ihrem Vater stammte, sollte sie vor neugierigen Blicken verbergen.
Das er von ihm stammte, war so gut wie alles, was sie über ihn wusste. Ein Thema, welches in ihrer Familie regelrecht totgeschwiegen wurde. Lulea war sich sicher, dass er noch lebte, irgendwo, und sie würde ihn finden! Wenn sie denn endlich ihren Besen bekam.
Lulea rechnete damit, dass man bei ihrem Eintreten ganz schnell alle Geburtstagsvorbereitungen samt ihren Geschenken verschwinden lassen würde. So war es in den letzten Jahren immer gewesen und bis jetzt hatte diese Heimlichtuerei ein gespanntes Prickeln bei der Hexe verursacht. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war das absolut normale Bild, das sich ihr bot, als sie in die Küche trat. Keine Geschenke, keine Dekorationen, die aus Schubladen herausblitzten, absolut nichts außer einem gedeckten Abendbrottisch.
Lulea versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, doch im Magen bildete sich ein
unangenehmer Knoten, der ihr die Kehle hochzuwandern schien. Bloß nicht weinen, ermahnte sich die Hexe. Tapfer durchquerte sie den kleinen Raum und versuchte, die verräterischen Tränen in Schach zu halten.
Sie liebte ihr Zuhause. Die Möbel, die direkt aus dem magischen Holz des Baumes gewachsen waren.
Kein Stuhl sah aus wie der andere und die Schränke, Tische und alles, was eben sonst noch so herumstand, veränderten ihre Form je nach Bedarf oder Laune des Hexenbaums. Das ganze Jahr über herrschte im Inneren ein angenehmes Klima und im Frühling und Sommer sprossen aus allerlei Ritzen junge Triebe und grüne Blätter, die man immer wieder zurückschneiden musste, damit nicht der ganze Wohnraum zuwucherte. Hier fühlte sie sich geborgen und daheim und doch wollte sie nichts sehnlicher, als endlich ihr Zuhause zu verlassen.
»Mach nicht so ein griesgrämiges Gesicht, setz dich und iss endlich was.«
Sie sollte etwas essen? Lulea glaubte, sich verhört zu haben. Für sie schien jeden Moment die Welt
unterzugehen und hier herrschte absolute Normalität. Wie immer wartete ein heißer Bottich Kakao auf sie und frischgebackenes Brot. Wie konnten sich alle nur so normal aufführen, während für sie alles in die Brüche ging. Ihr Vertrauter, ihr Besen, der Umzug in die Hauptstadt. Dort wollte sie alles lernen, was man als Hexe wissen musste und was sie brauchte, um ihren Vater zu finden. Sie wollte hinaus aus diesem langweiligen Wald. Sie hatte so viele Fragen, die ihr hier niemand beantworten wollte. Aber ihr Vater würde ihr bestimmt sagen, wieso keiner über ihn sprach. Warum sie noch nicht einmal seinen Namen wusste.
Vielleicht war ihre Mutter ja so still, weil er sie verlassen hatte? Aber weshalb? Und das war ja kein Grund, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Wusste er überhaupt, dass er eine Tochter hatte? Ohne Besen würde sie ihn das alles aber nie fragen können.
Erneut fühlte Lulea, wie sich die altbekannte Frustration in ihr regte, die viel zu leicht in Wut umschlug. »Wie könnt ihr hier so ruhig sitzen und so tun, als wäre alles in Ordnung?«
»Schatz, was würde es denn helfen, wenn wir uns verrückt machen? Dein Geburtstag ist doch erst
morgen«, antwortete ihre Mutter, während sie scheinbar ganz entspannt eine Tasse Tee zum Mund führte.
Was Lulea in ihrer Rage nicht auffiel, war das leichte Zittern der Tasse und der Tee, der über den Rand schwappte.
»Erst morgen? Seid ihr denn verrückt?«
Lulea wollte noch mehr sagen, doch da ging ihre Großmutter dazwischen. »Sprich nicht in diesem Ton mit uns, junges Fräulein. Setz dich und trink erst einmal deinen Kakao. Danach geht es dir bestimmt besser.«
»Mir wird es nie wieder besser gehen!« Damit stürmte Lulea aus der Küche. Tränen der Wut
verschleierten ihren Blick. Keiner verstand sie. Nein, man wollte einfach nicht verstehen, was es für sie bedeutete, morgen noch immer keinen Vertrauten zu haben.«
»Quaaaarrrggg!« Erschrocken machte Lulea einen Hüpfer zur Seite. Fast wäre sie auf die fette Kröte ihrer Großmutter getreten. Normalerweise versteckte sich diese wirklich hässliche Amphibie vor ihr, seit sie als Kind einmal auf sie draufgetreten war. Es war ein Versehen gewesen, aber so recht hatte ihr das niemand glauben wollen. Seitdem hatten Flutsch und sie ein eher distanziertes Verhältnis zueinander. Nun schaute sie die Kröte mit ihren dunklen, feuchten Augen mitleidig an. Vielleicht verstand ja doch jemand, wie sich die junge Hexe fühlte. Das half ihr bei ihrer Misere aber auch nicht weiter. Trotzig wischte Lulea ihre Tränen weg und stampfte die gewundenen Stufen in die erste Etage des Baumstammhauses hinauf.
Die Treppe wand sich um den Baumstamm herum, wobei die eine Seite durch den Stamm eine
geschlossene Wand mit vielen Nischen bildete, die hauptsächlich mit Büchern vollgestellt waren, und die andere Seite war durchbrochen, um Licht in das Baumstammhaus zu lassen. Hier wucherten derzeit saftig grüne Blätter herein. Im Winter wuchs eine hauchdünne Rinde, um die Bewohner vor Kälte, Regen und Schnee zu schützen. Das Haus war der Wahnsinn, dabei war es ein alter Hexenbaum, nicht zu vergleichen mit denen in der Hauptstadt. Wie musste es sein, in einem dieser hochmodernen, mit den neuesten Zaubern ausgestatteten Bäumen zu leben? Ob Sie genauso gemütlich waren? Irgendwie bezweifelte Lulea das. In ihre Überlegungen versunken, durchquerte Lulea den kleinen Wohnbereich im ersten Stock, ging vorbei an den Zimmern ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die sich auf einem schmalen Flur gegenüberlagen. An dessen Ende führte eine steile Freilufttreppe zu einer Aussichtsplattform. Hier war ein Ast so in die Breite gewachsen, dass sich eine Art Balkon bildete, von dem wiederum eine Hängeleiter in die Krone des Baumes
führte. Dort lag Luleas Reich. Geschützt von derselben Magie, die den Baum auch vor neugierigen Blicken verbarg. Wie ein unsichtbares Schutzschild hielt diese Kraft unerwünschtes Wetter und Kälte draußen und verhinderte andererseits, dass die junge Hexe oder etwas anderes versehentlich abstürzte. Soviel zu ihrem Vorhaben, ihre Schultasche aus dem Baum zu werfen. Sie wäre wie ein Flummi zurückgeprallt und dabei Lulea wahrscheinlich noch um die Ohren geflogen. Woher sie das wusste? Kindlicher Leichtmut hatte sie einst zu einem Experiment mit dem Schrubbel getrieben. Das Ergebnis? Eine Woche lang ein blaues Auge samt Stubenarrest für diese Dummheit und dafür, dass sie fast eine Erfindung ihrer Mutter zerstört hätte.
Behände hangelte sich Lulea die Leiter hinauf. Ihr Leben lang hatten sich die Abstände der Sprossen ihrer Körpergröße angepasst und die Hexe bewunderte immer wieder aufs Neue das Geflecht aus dünnen, in sich verflochtenen Ästen, welche die Hängeleiter bildeten. Endlich setzte sie den Fuß auf festes Holz und war in der Baumkrone angekommen. Ein runder astfreier Platz bildete ihr Zimmer und die rundherum wachsenden Äste verdichteten sich zu einem kuppelförmigen Dach. Tagsüber konnte Lulea durch die vielen Löcher in der Astdecke schauen. Wenn sie nachdachte, beobachtete sie dabei gerne den Lauf der Sonne und die über den Himmel treibenden Wolken. In der Nacht zählte sie die Sterne oder teilte ihre Gedanken mit dem Mond, der so still auf sie herabsah. Normalerweise fiel es ihr ausgesprochen schwer, in ihrem Reich schlechte Laune beizubehalten. Heute war aber alles anders. Auch die atemberaubende Aussicht konnte ihre Wut und Verzweiflung nicht mindern. Ohne einen Blick auf den rot und golden strahlenden Sonnenuntergang warf sie sich auf ihr Bett. Oft landete sie dabei in einem Berg aus Laub oder Schlimmerem. Der Hexenbaum schien sich regelrecht einen Spaß daraus zu machen, sie zu necken. Womit sollte sich ein Baum, der für alle Zeit am
selben Ort stand, auch sonst befassen, um sich die Zeit zu vertreiben. Dieses Mal sprang ihr aber kein
erschrockenes Eichhörnchen entgegen und nur wenige Blätter hatten sich auf ihre Decke und das Kissen verirrt. Auch der Baum schien zu merken, dass die junge Hexe nicht zum Spaßen aufgelegt war. Frustriert schlug Lulea immer und immer wieder so auf ihr Kopfkissen ein, dass die Blätter vor Angst an den Ästen raschelten. Das Kissen konnte nun wirklich nichts für Lulea Lage. An irgendetwas musste sie aber ihre Wut auslassen, sonst würde sie platzen. Auf Wut folgte dann die Verzweiflung. Nach den Schlägen saugte das Kissen nun die Tränen der Hexe auf und dämpfte ihr Schluchzen.
Ein leises Surren erklang über Luleas Kopf. Die Quelle war ein sanft vibrierender Ast, aus dem im
nächsten Moment die Stimme ihrer Mutter ertönte.
»Schatz, möchtest du nicht noch mal runterkommen? Ich habe eine neue Erfindung, die ich dir gerne
zeigen würde. Lu?«
Lulea hörte ihre Mutter nicht mehr, sie war bereits erschöpft auf ihrem nassen Kissen eingeschlafen.


Vita + Homepage:
Felizitas Montforts wurde im Februar 1983 geboren. Als Kind entdeckte sie zeitgleich ihre Begeisterung für das Lesen wie auch für das Schreiben. Heute lebt sie mit ihrem Mann, ihren Zwillingen und einer sehr anhänglichen Katze in Viersen am Niederrhein. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Schreiben und ihrem Food-Blog.
Weitere Informationen finden Sie auf Facebook, Google+ und ihrer Autorenseite.

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